Welche Beziehung zu Wissenschaft haben wohl alle die, die mit dir im Vorlesungssaal sitzen? [Foto: Julika Ude]
Um die Realität besser zu verstehen, habe ich vor drei Jahren mein gesellschaftswissenschaftliches Studium gestartet. Zu Anfang hatte ich häufig einen Crush auf die Idee hinter Theorien, die mir vermeintlich eine Antwort auf die Frage: „Warum?” lieferten. Von meinen Ent-Täuschungen und meiner neuen Beziehung zu wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Eine Kolumne von Julika Ude
Fast drei Jahre ist es her, dass ich, auf der Suche nach meinem neuen Zuhause, mit noch völlig Fremden am Küchentisch in ihrer WG sitze und von mir, meinen Hobbies und den Gründen für meine Studienwahl erzähle. Einen Grund für mein Studium höre ich mich meinen späteren Mitbewohner:innen so erklären: „Ich habe Meinungen, über das, was in der Welt passiert. Aber ich hätte gerne mehr Tools und Wissen zur Verfügung, um zu verstehen, warum Dinge so sind wie sie sind – oder eben genau nicht sind.“ Wenn ich daran zurückdenke, habe ich bei WG Castings mehr über mich verraten, als ich zu diesem Zeitpunkt selbst verstanden hatte.
Nachdem ich mein WG-Zimmer bezogen hatte, konnte es losgehen: Ich stürzte mich als wissensdurstige Ersti in die Inhalte meines PoWi-Studiums. Mit dabei waren immer Block und Stift – und meine rosarote Brille. So hatte ich einen Crush, zwei Crushes, eigentlich ständig Crushes und mehrere gleichzeitig; auf Themen und Theorien und vermutlich auf die Illusion, einen Teil der Realität nun endlich zu durchdringen.
Enttäuschungen und das Ende der Täuschung
Diese Schwärmereien entstanden aus einer Erwartungshaltung an Wissenschaft, die fernab von ihrer Natur ist. So spürte ich oft eine Faszination für eine Theorie über einen Sachverhalt, die innerhalb derselben Seminarsitzung erfolgreich zerstört wurde. Denn offensichtlich gibt es nicht nur einen möglichen Zugang zu Thematiken. Die Wenigsten hegen einen Anspruch auf eine vollständige Abbildung oder Erklärung der Realität. Und dann gibt es zwei oder auch mal zehn weitere Theorien oder solche, die eine ganz neue Überlegung anführen und der ersten in allem widersprechen. Ich war und wurde also regelmäßig enttäuscht und ent-täuscht.
Nach anfänglicher Desillusionierung, im weiteren Verlauf meines Studiums und mit meinem eigenen Hinterfragen meiner Erwartungen, hat sich mein Denken über Wissenschaft nachhaltig verändert. Spätestens beim Schreiben des Artikels über fälschliche Erkenntnisse einer Studie zu KZs und Fremdenfeindlichkeit (ak[due]ll berichtete), die veröffentlicht bleibt, weil auch publizierte Studien natürlich nicht zwangsläufig fehlerlos sind und eben auch Wissenschaft ein Prozess und ein System ist, das nicht makellos ist.
Mein Studium hat mir also Tools an die Hand gegeben, aber nicht um die Realität in dingfesten Erklärungen zu fassen, sondern um wissenschaftliche Beiträge autonom und kritisch zu überdenken, um red und green flags in Theorien oder Studien zu erkennen. Wissenschaft ist nun seltener mein Crush, auf den ich eine Wunschvorstellung und Perfektheit projiziere. Jetzt ist es vielmehr ein ständiger Freund, von dem ich gerne viel Neues lerne und den ich konsultiere, wenn ich verschiedene Perspektiven auf einen Sachverhalt hören will. Allerdings um mir schlussendlich meine eigene, differenzierte Meinung zu bilden, die selten Endgültigkeit beinhaltet, die offen für neue Erkenntnisse und kritisch gegenüber bereits vorhandenen ist.