Joseph entscheidet sich vor seinem Studium für einen Freiwilligendienst in Russland. Als er am 24. Februar 2022 in Moskau aufwacht, weiß er noch nichts von dem russischen Angriffskrieg – und den Herausforderungen, vor die ihn die neue Situation stellen wird.
Joseph und ich lernen uns im Jahr 2019 auf einer Reunion von Austauschschüler:innen kennen, die mit derselben Organisation im Ausland waren. Wir reden nur kurz, ich erzähle von meinem Aufenthalt in Spanien, er von seinem Jahr in einer russischen Gastfamilie. Vor einigen Monaten entdecke ich in seiner Instagram-Story, dass er wieder in Russland ist – und sich trotz des Angriffs auf die Ukraine dazu entschieden hat, zunächst zu bleiben. Warum ging Joseph wieder nach Russland? Und warum hielt er so lange an dem Land fest, anstatt umgehend aus der brenzlichen Situation zurück in die Heimat zu entfliehen? Ich bitte Joseph darum, mir von seinen Erfahrungen zu erzählen.
Wir treffen uns gegen Abend per Zoom zu einem Gespräch, es ist Dienstag und Joseph kommt gerade von seiner neuen Arbeit nach Hause. Mittlerweile wohnt und arbeitet der 20-Jährige nicht mehr in Russlands Hauptstadt Moskau, sondern in Lublin, Polen.
Geplant war das anders. Im September 2021 fahren der Berliner und sechs weitere Freiwillige mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. (ASF) nach Moskau, um dort für das kommende Jahr einen Freiwilligendienst zu absolvieren. ASF will die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus international fördern und heutigen Formen der Ausgrenzung von Minderheiten entgegenwirken. Joseph wird über diesen Verein an ein politisch-historisches Projekt in Moskau vermittelt. Während seines Freiwilligendienstes soll er dort arbeiten, in einem Zentrum, das über den Holocaust auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion aufklärt.
„Sicher, dass du nach Russland willst?”
Der Berliner interessiert sich seit Langem für postsowjetische Staaten, die dortigen Entwicklungen und Kulturen. Schon als er sich im Jahr 2018 für ein Auslandsjahr in Russland entscheidet, muss er feststellen, wie vorurteilsbehaftet sein Umfeld über Lebenswelten denkt, die auf ehemaligem Gebiet der Sowjetunion fußen. Er stößt immer wieder auf Unverständnis bezüglich seiner Länderwahl. „Dauernd fragte man mich ‘Bist du dir sicher, dass du dahin willst?’”, beklagt Joseph.
Für viele seiner Freund:innen wirken die Lebensrealitäten fern und die Probleme dort uninteressant, während Italien, Frankreich oder Spanien viel näher erscheinen. „Dabei ist zum Beispiel Madrid räumlich gesehen viel weiter von Deutschland entfernt, als die ukrainische Hauptstadt Kiew.”, merkt Joseph an. Ihm ist wichtig, dass Deutsche sich mehr mit den osteuropäischen Staaten auseinandersetzen und ihn gedanklich näherrücken lassen. Er selber ist 2018 nach Russland gegangen, um die russische Sprache zu erlernen und die Kultur dort authentischer erleben zu können.
Ein Angriffskrieg seitens Russland – mitten in Josephs Freiwilligenjahr
Damals lebt der Berliner in einer Gastfamilie in einer mittelgroßen Stadt. Er geht zur Schule, lernt die Kultur sowie neue Freund:innen kennen und spricht am Ende des Jahres fließend Russisch. Der nun 20-Jährige entscheidet sich für den Freiwilligendienst erneut nach Russland zu ziehen, um auch das Leben in einer Großstadt kennenzulernen. Dass mitten in seinem Freiwilligenjahr ein Angriff auf die Ukraine von seinem neuen Heimatland ausgehen wird, hat er bis nach dem russischen Überfall nicht für möglich gehalten.
Von russischen Truppenbewegungen nahe der ukrainischen Grenze im Vorjahr weiß Joseph. Trotzdem rechnet er nicht damit, dass Russland während seines Aufenthalts tatsächlich in die Ukraine einfallen würde. Als Olaf Scholz am 15. Februar 2022 in der Russischen Föderation zu Besuch ist, sitzt der Freiwilligendienstler nach eigenen Angaben nur circa zwei Kilometer vom Kreml entfernt in seinem Büro und schaut die Pressekonferenz live. Die mögliche Invasion der russischen Truppen ist für ihn präsent. Einen Moment, in dem er merkt, dass sie zur Realität werden könnte und er seine Koffer packen müsse, gibt es bis zum Morgen des 24. Februar 2022 aber nicht.

Schock am Morgen des 24. Februar
An besagtem Donnerstag wacht Joseph in seiner Wohnung in Moskau auf und greift vor dem Aufstehen zum Handy. „Eine befreundete Freiwilligendienstlerin hat mich per WhatsApp auf den veränderten Euro – Rubel Wechselkurs aufmerksam gemacht hat.”, erinnert sich der Freiwilligendienstler. „Ich habe diese Veränderung erst nicht hinterfragt und mich gefreut, dass ich jetzt shoppen gehen kann.” Später am Morgen öffnet er wie gewohnt Spiegel Online und entdeckt die Meldung: Putin greift die Ukraine an. Als er begreift, was er liest, erstarrt er vor Schock und braucht ganze zwei Stunden, um die Nachricht zu verdauen.
„Zu dem Zeitpunkt hätte ich eigentlich zur Arbeit gemusst. Ich bin nicht gegangen, weil ich ein starkes Gefühl des Verlorenseins in mir spürte. Ich stand an meinem Zimmerfenster und starrte in die Ferne”, erinnert er sich. Zu dem Zeitpunkt bereitet ihm die Ungewissheit darüber Sorge, wie sich Moskau und sein gesamtes Lebensumfeld jetzt verändern würden. „Normalerweise fuhr ich immer mit der U-Bahn zur Arbeit. Ich fragte mich, werden dort jetzt überall Soldaten stehen?”
Als er sich später bereit fühlt und vor die Tür tritt, nimmt er wider Erwarten noch keine erhöhte Militär- oder Polizeipräsenz wahr. Dafür aber eine bedrückte Stimmung, die ihn an die Zeit erinnert, als sich das Covid-Virus erstmals ausbreitete. „Die Menschen mussten sich auf eine ungewisse Zukunft einstellen. Viele waren geschockt und orientierungslos und wussten nicht, wie sich die Situation entwickeln würde. Eine Atmosphäre des Verlorenseins nahm ich auf den Straßen in der ersten Zeit nach dem 24. Februar auch wahr.”
Aus der U-Bahnstation in einen Antikriegsprotest
Hohe Polizeipräsenz bemerkt er erst später bei aufkommenden Protesten gegen den Krieg. Er selber wird von ASF darum gebeten, nicht an solchen teilzunehmen. Doch durch Zufall findet er sich bald mitten in einem Aufruhr wieder: Als er mit der U-Bahn zu Freunden fahren will, sind an seiner Zielstation einige Ausgänge abgesperrt. Ihm kommen Presseleute mit Schutzwesten entgegen. In der Ferne hört er, wie sich unruhige Aktivist:innen an der Öffnung des U-Bahnausgangs versammeln und „нет войне” also „Kein Krieg” rufen. Als Joseph sich draußen einen Überblick über die Situation verschafft, wird er Augenzeuge einiger Festnahmen von Demonstranten. Aus Angst davor, selber „von der Polizei rausgepickt zu werden” zu werden, ruft Joseph einen Bekannten auf Deutsch an und entfernt sich schnell von dem Geschehen.
Ab diesem Tag passt Joseph auf, was er auf seinen Social Media Kanälen online stellt. Auch das Fotografieren in der Stadt schränkt er ein, aus Angst von der Polizei gesehen zu werden und deswegen in Schwierigkeiten zu geraten. Da die russische Regierung ein Verbot für Wörter wie „Krieg“ verhängt hat, muss er besonders bei der Arbeit auf seine Sprache achten. „Im Büro wurde auf die Einhaltung des Verbotes geachtet, da mit einem Verstoß die Schließung des Zentrums einhergehen könnte.” Im Supermarkt oder auf der Straße hört er, wie Leute sich dem Verbot widersetzen und nicht nur „Spezialoperation”, sondern auch zensierte Wörter wie „Krieg” fallen.

Eine zerbrochene Freundschaft
Politische Diskussionen versucht der 20-Jährige zu vermeiden, wenn er merkt, dass sein:e Gegenüber:in anderer Meinung ist als er. Nach dem 24. Februar führt eine politische Meinungsverschiedenheit dennoch dazu, dass eine Freundschaft von ihm zerbricht. Mit einer Freundin hatte er vor einem halben Jahr bei einem Bier auf seinem Balkon noch kritisch über den russischen Präsidenten geredet. Nun versucht sie an Joseph heranzutragen, dass er falschen Berichterstattungen glaube, es sei „nicht alles so, wie sie sagen”. „Für mich war es schwierig, mit ihr sachlich zu diskutieren. Irgendwann kam das Argument von ihrer Seite, dass meine Informationen eben nur aus „westlichen” Medien stammen. Ich denke, sie hatte das Gefühl, ich würde ihre Meinung delegitimieren, weil sie aus Russland kommt.” Joseph entscheidet sich, den Kontakt mit ihr abzubrechen.
Trotz allen Veränderungen seines Alltags blickt der Berliner der Lage optimistisch entgegen und denkt erst einmal nicht an eine vorzeitige Abreise. Angst um sich selbst hat er keine. „Ich hatte eher Angst, dass meine Verwandten und Freunde sich Sorgen machen. Viele dachten fälschlicherweise, man hält mich in Russland fest.” Zu dem Zeitpunkt postet er noch ein Foto in seiner Instagram-Story, auf dem er schreibt, dass er sich gut fühlt und zunächst in Moskau bleiben möchte. Das einzige Problem ist sein Visum, dass Ende März ablaufen wird und die Frage, wie er wieder nach Deutschland kommen würde. Die direkten Flugverbindungen nach Deutschland sind bereits eingestellt.
„Aber ich hatte Angst, dass ich ohne Geld verhungern könnte.”
Als die Kreditkartenanbieter Mastercard und Visa sich Anfang März aus Russland zurückziehen, sorgt das bei dem ansonsten sehr gelassenen Joseph doch für einen Moment der Panik. „In Russland zahlt man normalerweise überwiegend mit Google oder Apple Pay. Das ist nicht wie in Deutschland, wo man in jedem Restaurant Angst davor haben muss, nicht mit Karte zahlen zu können.” Als diese Dienste nicht mehr funktionieren und man nur noch wenig Bargeld vom Bankautomaten abheben kann, befürchtet er, sich irgendwann kein Essen mehr kaufen zu können. „Ich erinnere mich an die langen Schlangen vor den Geldautomaten, als alle verzweifelt versuchten, an Bargeld zu gelangen. Ich hatte keine Angst, dass mir was zustößt, aber dass ich ohne Geld verhungern könnte.”
Da erste Botschaften ihren Bürger:innen empfehlen, ihren Aufenthalt in Russland auf Notwendigkeit zu überprüfen, entschließen sich Mitfreiwillige von Joseph zur Heimreise. Nach langen Telefonaten lässt sich auch der Berliner überzeugen, gemeinsam mit seiner Gruppe Anfang März auszureisen. Eltern von anderen Freiwilligendienstler:innen holen ihre Kinder sofort nach Hause, die Mutter von Joseph geht mit der Situation entspannt um: „Sie hat mir gesagt, ich soll schauen, wie es sich entwickelt und die letzte Zeit genießen. Ich habe noch Museen und Kinofilme besucht oder bin mit Freunden essen gegangen.” Am 03. März fliegt der Freiwilligendienstler schließlich über Istanbul zurück nach Deutschland.
Wieder in Berlin ist Joseph froh, endlich angekommen zu sein. „Mein ganzes Leben zusammenzupacken war mit viel Stress verbunden.” Für ihn steht fest, dass er nicht zurück nach Russland gehen wird, solange der Krieg andauert. Über Social Media, seit dem Verbot von Instagram besonders über Telegram, steht er weiterhin in Kontakt mit russischen Freund:innen. „Die Funktionen dort sind nicht dieselben, aber was vorher in der Instagram-Story veröffentlicht wurde, wird jetzt als Text oder kurze Video-Message versendet. So kann man sich gegenseitig weiterhin über das Leben updaten.”
Mittlerweile arbeitet er in einer Projektstelle in Lublin. Er erzählt, dass er bei seiner Arbeit in Kontakt mit geflüchteten Ukrainer:innen kommt und sich gelegentlich mit ihnen austauscht. Für einige von ihnen geht es weiter nach Deutschland. Gerade in dieser Situation muss er an die kritischen Kommentare denken, die er 2018 von seinen Freunden bezüglich seiner Länderwahl zu hören bekam und hofft, dass die Deutschen kulturell etwas offener werden.
Transparenzhinweis: Dieser Beitrag wurde ursprünglich am 30. Juli 2022 auf unserer alten Website akduell.de hochgeladen. Auf die kann durch einen Cyberangriff im November 2022 allerdings nicht mehr zugegriffen werden.