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Heiraten statt Gedenken? Über ein Konzentrationslager, in dem man nun Feste feiert

In der Bochumer Zeche Gibraltar wurden politische Gegner:innen im Jahr 1933 von NationalsozialistInnen misshandelt und gefolterten. [Foto: Julika Ude]

Transparenzhinweis: Dieser Artikel wurde im Januar 2022 verfasst und das erste Mal auf unserer alten Website akduell.de hochgeladen.

Als unsere Redakteurin erfährt, dass ein ehemaliges Konzentrationslager in Bochum für Hochzeiten inklusive „Rundum-Sorglos-Paket” zu mieten ist, muss sie schlucken. Was bleibt, wenn die Spuren dieser Zeit immer weniger sichtbar werden?

Eine Kolumne von Julika Ude 

30. Januar 1933: Die Stadt Bochum ist in Aufruhr. Begeisterte Anhänger:innen des Nationalsozialismus versammeln sich auf den Straßen. Fackelzüge, Jubel und Gesang prägen das Stadtbild. Der Anlass: Reichspräsident Hindenburg ernennt Adolf Hitler zum Reichskanzler. Die NationalsozialistInnen sind an die Macht gelangt und bald werden zahlreiche Menschen brutal gefoltert und misshandelt. Als Folterstätte in Bochum dient unter anderem die im Jahr 1925 stillgelegte Zeche Gibraltar. 

Zeche in Bochum als “wildes” Konzentrationslager

Anfang 1933 nimmt die Bochumer Sturmabteilung (SA) einen Teil der zugehörigen Gebäude in Besitz und errichtet eine SA-Führerschule sowie ein Internierungslager für politische Gegner:innen des NS-Regimes. Besonders Sozialdemokrat:innen, Kommunist:innen und Gewerkschafter:innen werden hier von der SA misshandelt, zur Schwerstarbeit gezwungen und unter Folter dazu gedrängt, Geständnisse abzulegen. Gibraltar ist ein „wildes”, also vor der Institutionalisierung des Konzentrationslager(KZ)-Systems errichtetes KZ und wird im großen Umkreis von Regimegegner:innen gefürchtet. 

Heutzutage hat man keine Angst mehr vor der Zeche. Der Stollen steht unter Denkmalschutz und es wurden zwei Gedenktafeln angebracht, die über die schreckliche Geschichte des Ortes aufklären sollen. Ansonsten erinnert nichts mehr an die Gräueltaten, die an diesem Ort ausgeführt wurden. Im Gegenteil. In der Nähe befindet sich ein Freizeitzentrum und in den Gebäuden der Zeche eine Eventlocation, die man für Hochzeiten und andere Feste mieten kann – inklusive eines „Rundum-Sorglos-Pakets”, wie ich auf der Facebookseite der Location sehe.

Beim Lesen zieht sich mein Magen zusammen. Mein Körper wird unbeweglich und ich bin fassungslos. Für mich ist das pure Ungerechtigkeit. Wie kann es sein, dass Menschen dort gefoltert wurden, unbeschreibliche Schmerzen erlitten, unfrei waren und unsereins an demselben Ort nun den schönsten Tag seines Lebens verbringt? Ich denke an Respektlosigkeit gegenüber den NS-Opfern und deren Leid, an ihre Ungewissheit darüber, was mit ihnen passieren würde, die Angst und die Schmerzen, die sie gehabt haben müssen. Und die Demütigung, die jede:r einzelne von ihnen erfahren hat.

Diskrepanz zwischen geschichtlichen Ereignissen und heutiger Lebensrealität

In meiner Familie herrscht viel Bewusstsein über die grausame Zeit. Mein Urgroßvater wurde in einem Konzentrationslager ermordet. Ich spreche mit seinem Sohn, meinem Opa, und meiner Großmutter, schildere ihnen am Telefon die Sachlage und kann meine Tränen nicht zurückhalten. Auch sie sind entsetzt, aber sie berichten auch von anderen belasteten Orten, deren Wandel hin zu einem alltäglichen Ort sie selbst miterlebt haben. Mein Opa hat es mit einer „Diskrepanz zwischen den geschichtlichen Ereignissen und der heutigen Lebensrealität” beschrieben. Die Orte schleppen die Geschichte mit sich, aber nur für diejenigen, die sich dessen bewusst sind.

„Die Geschichte dieser Orte muss uns vor Augen führen, dass wir, zu welcher Zeit auch immer, die Mitverantwortung für unmenschliches Verhalten tragen und diese Verantwortung in unsere Haltung durch Mitgefühl, Aufrichtigkeit, Respekt und Bemühen um Gerechtigkeit integrieren müssen.”

mein Opa,
dessen Vater von NationalsozialistInnen im KZ ermordet wurde

Mir fällt zum ersten Mal auf, dass ich nicht weiß, wie mit Orten verfahren wird, an dem NationalsozialistInnen Menschen gefoltert und ermordet haben. Wenn sich niemand der Aufgabe annimmt, diese Orte zu einer Gedenkstätte zu machen und das auch entsprechend zu finanzieren, was soll dann mit ihnen passieren? Sollen sie ungenutzt verfallen? Auf keinen Fall. Doch darf man solche Orte anderweitig nutzen, wenn nicht zu aufklärenden Zwecken? 

Ich weiß es nicht. In mir sträubt sich alles dagegen, die Legitimität der Alltagsnutzung anzuerkennen, auch wenn es beinah notwendig scheint. Ist nicht eine Nutzung für Hochzeiten zumindest eine positive? Es ist nur sicher, dass, wenn die Erinnerungskraft nationalsozialistisch belasteter Orte schwindet, unser Bewusstsein dafür anderweitig erhalten werden muss. Und, dass ich meinen Großeltern mehr als nur zustimme, wenn sie sagen: „Die Geschichte dieser Orte muss uns vor Augen führen, dass wir, zu welcher Zeit auch immer, die Mitverantwortung für unmenschliches Verhalten tragen und diese Verantwortung in unsere Haltung […] durch Mitgefühl, Aufrichtigkeit, Respekt und Bemühen um Gerechtigkeit integrieren müssen.”

Info: Unter der Regie des ehemaligen Leiters des Stadtarchivs Bochum, Johannes Volker Wagner, wurden vier Teildokumentationen über die NS-Zeit in Bochum veröffentlicht: Eine Revierstadt wird braun, Arbeit und Leben im Dritten Reich, Stadt im Krieg- Der Bombenkrieg, Ruhrarbeiter im Widerstand.