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UDE-Studie untersucht: Sind wir durch Nähe zu einem Konzentrationslager fremdenfeindlicher?

Autorin: Julika Ude | Eine UDE-Studie widerlegt die Studienergebnisse eines amerikanischen Forschungsteams. [Foto: Carl S auf Pixabay]

„Je näher du an einem Konzentrationslager wohnst, desto fremdenfeindlicher bist du voraussichtlich.“ Das klingt falsch, oder? Ein amerikanisches Forschungsteam sorgte mit diesen Studienergebnissen für Aufsehen. Eine UDE-Studie widerspricht ihnen nun.

Nach dem Eindruck von PD Dr. Conrad Ziller vom Institut für Politikwissenschaft der UDE habe die Veröffentlichung einer Studie in der Fachwelt eine Mischung aus Interesse und Verwunderung hervorgerufen. Nach ihr gebe es einen Zusammenhang zwischen rechtem Gedankengut und Wohnortnähe zu Konzentrationslagern. „Man erwartet, dass Erinnerungsorte als wichtig empfunden werden, weil sie der Aufarbeitung des Unrechts dienen. Doch die Autor:innen fanden mittels Analyse von Umfragedaten heraus, dass die Wohnortnähe zu einem solchen Mahnmal Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit erhöhen“, erklärt Ziller. 

Wird uns Fremdenfeindlichkeit von älteren Generationen gelehrt? 

Die Studie „Legacies of the Third Reich: Concentration Camps and Out-group Intolerance“ wurde 2020 im Magazin American Political Science Review veröffentlicht. Sie untersucht, warum bestimmte Personen fremdenfeindlicher sind und eher rechtsradikale Parteien unterstützen als andere. Frühere Forschungen haben laut des Forschungsteams häufig zeitgleiche Faktoren berücksichtigt. So wurden beispielsweise fremdenfeindliche Einstellungen mit sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen in Zusammenhang gesetzt. Die Forscher:innen argumentieren jedoch, dass Fremdenfeindlichkeit viel tiefere historische Wurzeln haben könnte.

Sie gehen von dem folgenden Mechanismus aus: Der in den Konzentrationslagern (KZs) während des Dritten Reiches verbreitete Gruppenhass gegenüber „Fremden“ habe auf die umliegenden Gemeinden übergegriffen und bei Anwohner:innen eine sogenannte kognitive Dissonanz ausgelöst. Ein Unwohlsein, weil ihre eigentlichen Einstellungen mit der Nazi-Ideologie nicht übereinstimmten. Um das psychologische Unbehagen zu reduzieren, rationalisierten sie die neuen Informationen und nahmen eine negative Einstellung gegenüber Fremdgruppen an. Diese Überzeugungen seien dann von Eltern und Gleichaltrigen über Generationen hinweg weitergegeben worden, sodass noch heute ein Zusammenhang zwischen Wohnortnähe zu einem ehemaligen Konzentrationslager und Fremdenfeindlichkeit bestehe.

In ihrer Studie schließen sie aus, dass die Aufrechterhaltung der KZs beispielsweise als Mahnmal auch noch heute Fremdenfeindlichkeit fördert. Sie betonen, dass die Bemühungen, die Menschen an die dort begangenen Gräueltaten zu erinnern, die Intoleranz gegenüber Fremdgruppen durch pädagogische Effekte stoppen könnte.

„Die Ergebnisse der Originalstudie fallen wie ein Kartenhaus in sich zusammen.“

Die Forscherin Sara Goodman aus Kalifornien und der Forscher Tom Pepinsky aus Cornell wurden auf diese Studienergebnisse aufmerksam und verständigten sich mit Dr. Conrad Ziller darauf, die Daten der Studie zu reanalysieren. „Im Prozess wurde schnell klar, dass die Ergebnisse dieser Studie ziemlich wackelig sind“, so Ziller.

Die Argumentation des Forschungsteams, Fremdenfeindlichkeit würde über Generationen hinweg weitergegeben, habe laut Goodman, Pepinsky und Ziller tiefgreifende Auswirkungen auf die Untersuchung der Hinterlassenschaften des Völkermords, einem zentralen Forschungsthema in den Sozialwissenschaften sowie auf den sozialen und politischen Umgang mit diesen Folgen. „Als Wissenschaftler ist es unsere Pflicht, sorgfältig aus der Vergangenheit zu lernen“, schreibt das Team in ihrer im März 2023 im American Political Science Review veröffentlichten Reanalayse. Sie kritisieren, die Forscher:innen hätten mögliche Einstellungsunterschiede zwischen den Bundesländern bei ihrer Studie nicht berücksichtigt.

Die Bundesländer unterscheiden sich in wichtigen Punkten wie ökonomischen demografischen Strukturen, Schulcurricula oder regionalen Ausrichtungen politischer Parteien. Ein gutes Beispiel hier seien die Gräben zwischen Ost- und Westverbänden der AfD. Der Politikwissenschaftler erklärt: „Wenn man die statistische Auswertung also um die ‚Kontrollvariable‘ Bundesländer erweitert, verschwindet der Zusammenhang zwischen der Wohnortnähe und der politischen Einstellung. Wir haben das gemacht und die Ergebnisse der Originalstudie fallen daraufhin wie ein Kartenhaus in sich zusammen.“ 

Außerdem hätten andere Forscher:innen festgestellt, dass einige Arbeiter:innen in Konzentrationslagern emotionalen Stress ihrer Arbeit mit Drogen und Alkohol bewältigten, einem zweiten, alternativen Bewältigungsmechanismus zur kognitiven Dissonanz. „Die generationsübergreifende Übertragung von Einstellungen gegenüber Fremdgruppen wird nicht direkt gemessen, sondern nur indirekt abgeleitet. Durch Migration und Umsiedlung innerhalb Deutschlands ist es schwierig, die Auswirkungen historischer Variablen abzuschätzen”, legen die Forscher:innen in ihrem Bericht dar.

„Wissenschaft ist ein soziales System, in dem auch Fehler passieren können.”

Kurz gesagt könne man also darauf schließen, dass die geografische Lage der ehemaligen KZs keine Rolle bei aktuellen politischen Einstellungen spielt. „Wir haben keinen Zweifel daran, dass Völkermord generationsübergreifende Hinterlassenschaften hinterlässt. Aber unsere Argumentation unterstreicht die besondere Sorgfalt, die erforderlich ist, um diese zu messen“, schreiben die Forscher:innen.

Ziller erstaunt es nicht, dass die vorausgegangene Studie von 2020 trotz der fehlenden Kontrollvariable, die die Ergebnisse laut der Reanalyse verfälschen, öffentlich zugänglich bleibt. „Der wissenschaftliche Prozess lebt nun mal von aufeinander aufbauenden Fortschritten und der Kommunikation von Ergebnissen mittels Veröffentlichungen.” Nachdem besonders in der Psychologie eine Vielzahl an Befunden in Folgestudien nicht reproduziert werden konnte, gebe es die Bestrebung, die wissenschaftliche Forschung transparenter zu machen. Deshalb müssten genutzte Daten offen zur Verfügung gestellt werden. „Das ist glücklicherweise auch in der Politikwissenschaft so. Dadurch konnten wir schnell die Analysen der Originalstudie nachvollziehen.” Er erklärt weiter: „Wissenschaft ist ein soziales System, in dem auch Fehler passieren können und Ineffizienz auftritt.” Für umso wichtiger hält er es deshalb „auch publizierten Ergebnissen kritisch gegenüber zu sein.”