Schadet Psychotherapie meiner Lehramtskarriere?

Artikel: ehemaliges Redaktionsmitglied

„Wer eine Psychotherapie gemacht hat, ist direkt raus.“ Dieses Gerücht hält sich hartnäckig unter Lehramtsstudierenden, wenn sie über ihre zukünftige Verbeamtung und die dazugehörige amtsärztliche Untersuchung sprechen. Wir haben nachgefragt, was dran ist. 

Alex* ist Lehramtsstudent an der Universität Duisburg-Essen. Eines seiner Karriereziele ist es, später als Beamter im Schuldienst zu arbeiten. „Der Beamtenstatus ist für mich alles, worauf ich als Lehrer hinarbeite: Wenn du das hast, dann überstehst du auch 50 schreiende Kinder jeden Tag.“ Eine Beamt*in genießt die besondere Fürsorge des Staates: Etwa die Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie die Möglichkeit, bei vorzeitiger Dienstunfähigkeit im Vergleich zum üblichen Rentensystem gut abgesichert zu sein. Die Sorge darum, sein Ziel nicht zu erreichen, erlebt Alex täglich: Schon seit einigen Jahren leidet er an Motivationslosigkeit, tut sich schwer in seinem Studienalltag. Doch aus Angst davor, seine Karriere zu gefährden, versucht er, seine Sorgen ohne eine Psychotherapie zu bewältigen. Er befürchtet, bei der sogenannten „Bestenauslese“ nicht bestehen zu können, wenn ihm ein chronisches Leiden diagnostiziert wird.

Anwärter*innen des Beamtenstatus werden von einem Amtsarzt bzw. einer Amtsärztin untersucht und ihre körperliche und geistige Gesundheit protokolliert. Ebenfalls im Protokoll enthalten ist eine Prognose hinsichtlich der voraussichtlichen gesundheitlichen Entwicklung der*des zukünftigen Angestellten. Dieses Protokoll wird dem Land Nordrhein-Westfalen, vertreten durch die jeweilige Bezirksregierung, vorgelegt. Sie ist der Dienstherr und entscheidet darüber, ob sie den*die Beamt*in einstellt. Das amtsärztliche Gutachten nimmt somit direkten Einfluss auf diese Entscheidung. Der Staat hat seinen Beamt*innen gegenüber besondere Fürsorgepflichten: Er muss sie auf Lebenszeit versichern, ihnen bei krankheitsbedingten Ausfällen ihr volles Gehalt sowie bei einer Frühpension aufgrund von Dienstunfähigkeit hohe Pensionen zahlen. Eine dauererkrankte Person verursacht ihm somit hohe Kosten. 

Ist Psychotherapie ein No-Go?

Doch wird jede*r Anwärter*in, der*die in psychotherapeutischer Behandlung war, automatisch nicht verbeamtet? Jörn Sickelmann, Leiter der Akademischen-Beratungsstelle der UDE, verneint dies. In der Untersuchung werde stets der Einzelfall geprüft. „Sie dürfen eines nicht machen, nämlich sagen: Diese Diagnose geht immer durch und diese Diagnose nicht. Sie werden als Individuum gesehen.” 

Was die Prognosemöglichkeiten betreffen, seien psychische Erkrankungen generell schwerer zu handhaben als körperliche Gebrechen, denen eindeutige Messwerte zugrunde liegen. Daher werde auch das Gutachten des zuständigen Therapeuten überprüft. Wenn Amtsärzt*innen unschlüssig sind, ordnet er*sie gegebenenfalls weitere fachärztliche Untersuchungen an. 

Therapie oder Beratung?

Wer sich nicht sicher ist, ob eine Psychotherapie notwendig ist, kann dieser psychologische Beratungen oder Coaching vorschalten. Sie müssen auf dem amtsärztlichen Anamnesebogen nicht angegeben werden. „Bei der psychologischen Beratung kann man erstmal zusammen schauen, wo die Hintergründe von den Symptomen sind, die in letzter Zeit aufgetreten sind. Es gibt auch das Konzept der Selbstwirksamkeit“, rät Thomas Interbieten, psychologischer Berater im Akademischen Beratungs-Zentrum der UDE. Greife dieser Ansatz der Psychoedukation zu kurz, würde er Psychotherapie als nächsten Schritt empfehlen. „Es gibt eine klare Unterscheidung zwischen Beratung auf der einen und Therapie auf der anderen Seite. Wir stellen weder irgendeine Art von Diagnose, noch führen wir irgendeine Art von therapeutischer Behandlung aus“, stellt Interbieten klar.

Sickelmann bemerkt in seinem Arbeitsalltag, dass das Verständnis für mentale Gesundheit in den letzten Jahren gesamtgesellschaftlich zunimmt. Dana* ist heute verbeamtete Lehrerin, trotz zwölf Wochen stationärer Behandlung und 18 Monaten weiterer ambulanter Therapie. „Ich sah keine Alternative, denn ich konnte manchmal tagelang das Haus nicht verlassen. Das war kein Leben, das ich mir wünsche. Bei der Amtsärztin habe ich von Anfang an mit offenen Karten gespielt und konnte ihr klar machen, dass Schule eher zu meiner Genesung beiträgt, als mich krank zu machen,“ erzählt sie. 

Wie stark ist mein Leid?

Sickelmann ist der Auffassung, dass jede*r Betroffene selbst genau abwägen müsse, was es bedeutet, mit einer unbehandelten psychischen Erkrankung zu leben, zu studieren und zu arbeiten: „Eine wichtige Frage ist: Wie stark ist mein Leidensdruck? Ich habe auch oft Studierende darauf hingewiesen, dass man erstmal gucken muss, ob sie überhaupt durchs Referendariat kommen, in dem Zustand, in dem sie gerade sind. Ob sie überhaupt unbehandelt durchs Studium kommen.“ Interbieten ergänzt: „Man weiß aus der Forschung, dass es bestimmte psychische Problemlagen gibt, die sich verschlimmern, je länger ich damit warte, zu intervenieren.“ Dana* sieht dies ähnlich. Anderen Betroffenen rät sie: „ Lass dir helfen, sobald du eingesehen hast, dass du Hilfe brauchst. Ohne Therapie wäre die gute Zeit, die ich jetzt habe, nie möglich gewesen.“ 

*Namen von der Redaktion geändert.


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