Moderne Hippies

Autor: Lars Gajda | Illustration: Jacqui Mundri

„Das moderne Leben ist einfach mehr hippie geworden.“ – Aktuelle Entwicklungen wie steigende Zahlen pflanzlicher Ernährung, Umweltschutz und Protestaktionen wie die Kämpfe um den Hambacher Forst, Legalisierung von Drogen und Freiheitsbewegungen in Identität und Liebe brachten uns auf die Frage nach dem modernen Hippietum. Im September-Schwerpunkt fragen wir spätsommerlich nach der Entwicklung der Hippiekultur und den Lebensformen der modernen Hippies. Gibt es sie? Wie leben sie? Was ist ihnen wichtig? Wir haben recherchiert und Interviews geführt, um die moderne Hippiekultur kennenzulernen. 

Ursprung und politische Motivation der Hippiebewegung

Die Hippiebewegung fand ihren Ursprung in den 1960er Jahren in San Francisco. Sie begann als Ausstiegsbewegung aus den damaligen gesellschaftlichen Konventionen und setzte sich als Bürgerrechtsbewegung und Protest gegen den Vietnamkrieg fort. Der Pazifismus stellte einen zentralen Aspekt der Hippiebewegung dar, die ein gewaltfreies und friedliches Miteinander propagierte. Im Sinne der Ideologie der Hippiebewegung entstand die 68er Bewegung, die heutzutage als links bezeichnete politische Werte repräsentierte. Die Studierendenbewegung setzte sich für Bürgerrechte und eine soziale Welt ein. Im Zentrum standen Kapitalismus- und Konsumkritik. 

Aus einer Gegenbewegung zur bestehenden Wirtschaftsordnung und um sich von der Konsumgesellschaft abzusetzen, fertigten die Hippies in Eigenproduktionen mittels Stricken, Nähen und Färben ihre Kleidung, die ein wichtiger Bestandteil der Ästhetik der kommenden Jahre und Jahrzehnte wurde. Die bunte Kleidung repräsentierte die bunte Welt der Hippies, in der Toleranz und Offenheit eine zentrale Rolle spielten. Die durch die spätere Kommerzialisierung berühmt gewordene Hippiemode fungierte auch wie eine Uniform im Kampf gegen die Gewalt. Unter dem Motto „Make love, not war“ protestierten friedliebende Menschen für eine gewaltfreie Zukunft. Weitere politische Ziele waren Frauenrechte und der Umweltschutz. Die heute als „Öko-Lifestyle“ titulierte Naturverbundenheit stand für die Liebe zur Umwelt und war eine Antwort auf den Massenkonsum. Es entstanden Kommunen, in denen die Hippies, häufig in der Natur, zusammenlebten. 

Liebe, Drogen und Selbstverwirklichung 

Die Hippiebewegung war ursprünglich keine rein politische Bewegung. Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung waren Anliegen der Blumenkinder. Die Selbstverwirklichung wurde auch, wie es heutzutage stereotyp rezipiert wird, durch Drogenkonsum, vor allem von Cannabis und LSD, ausgelebt. Erleuchtung und Bewusstseinsausdehnung waren essenzielle Bestandteile der Hippiebewegung. Der Drogenkonsum stand auch im Zusammenhang mit dem freien Ausleben der Liebe, die die treibende Kraft der Bewegung darstellte. Man wollte sich selbst, die anderen und den Planeten in vollen Zügen lieben. Liebe als Oberbegriff führte zu einem weiteren Verdienst der Hippiekultur: die sexuelle Revolution. 

Die sexuelle Revolution, die mit freier Liebe und weiblicher Selbstbestimmung von den Hippies ausging, wurde durch die erste 1960 in Amerika auf den Markt kommende Antibabypille erst wirklich entfacht. Die „freie Liebe“ stellte über Orgien in Kommunen hinausgehend eine Revolution der Dating- und Beziehungskultur dar, die sich stark von den damaligen Normen abgrenzte. 

Die moderne Hippiekultur

Die Hippiebewegung zeichnete sich vordergründig durch eine pazifistische, freiheitliche, alternativ-experimentelle und tolerante Geisteshaltung aus, die an sich zeitlos ist. Die Hippiekultur der 60er Jahre in den USA starb durch ihre Kommerzialisierung aus, die Ideologie und das Gedankengut hingegen werden auch heutzutage noch aktiv gelebt. So gibt es beispielsweise auf Ibiza, in Marokko oder im indischen Goa noch traditionelle Hippie-Kommunen. 

Wir haben uns gefragt, wie die der Hippiebewegung zugrundeliegende Ideologie heutzutage im bürgerlichen Kontext gelebt wird. Sprich: Gibt es den Hippie in Jeans, oder gar im Anzug? Wir haben Interviews geführt, um den Zügen des modernen „Hippietums“ nachzugehen und etwas über die modernen Lebensformen, in denen das Gedankengut der Hippiekultur verwurzelt ist, zu lernen. 

Unsere Interviewpartner:innen leben ein sich auf den ersten und zweiten Blick teilweise stark vom Leben der meisten traditionellen Hippies unterscheidendes Leben. Wir haben einen Büroangestellten in der Industrie mit einem Nebengewerbe, eine Bachelor-Studentin der Psychologie, die auch als Theaterschauspielerin und Content Creatorin im Bereich Nachhaltigkeit und Literatur aktiv ist und einen in der Maschinenbauindustrie Angestellten nach den Parallelen zwischen dem traditionellen Hippiekult und ihrem Leben gefragt. Die Auswahl der Interviewpartner*innen erfolgte aufgrund ihrer sich stark voneinander unterscheidenden Berufsbilder, die repräsentativ eine “breitere Masse” abbilden sollen. Wir wollten bewusst keine Expert*innen interviewen, da hier die individuellen Lebensformen möglicher moderner Hippies untersucht werden. 

Die drei Interviewpartner:innen Dimitri, Roswitha und Francesco* sehen die Werte der traditionellen Hippiebewegung, wie Pazifismus, Frieden, Freiheit, Toleranz, Liebe, Frauenrechte und Naturverbundenheit als Grundbausteine ihrer Geisteshaltung und ihres Weltbilds. Dabei unterscheidet sich, inwieweit sie diese Geisteshaltung in ihr alltägliches Handeln integrieren. Zwei der drei Interviewpartner:innen leben vegan. Dimitri sieht in der veganen Lebensweise den „Inbegriff und Ausdruck von Liebe […] und Rücksicht auf Natur und Leben und [sie] ermöglicht das Schaffen eines sinnhaften gemeinschaftlichen friedvollen Lebenswerkes, was sich mit vielen Werten der Hippie-Bewegung deckt.“

Selbstverwirklichung durch „künstlerischen Ausdruck“ und „experimentelle Wege“, die „das Leben in eine unglaublich schöne Reise verwandeln“, stellen ebenfalls Parallelen der Antworten der Interviewten dar. 

In Bezug auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Lebensverhältnisse und Praktiken der modernen und traditionellen Hippies liest sich aus den Antworten der drei Interviewpartner:innen eine wertschätzende Distanz. Beispielsweise antwortete Roswitha, dass sie die „Freie Liebe“ niemandem absprechen oder nehmen will, sich persönlich aber nie etwas anderes als eine langfristige, monogame Partnerschaft gewünscht habe. Dimitri praktiziert „Freie Liebe“ „nur zum Teil”, ist aber drogeninduzierten bewusstseinserweiternden Erfahrungen nicht abgeneigt und betont die Bedeutung des bewussten Erlebens anstelle des Betäubens und Ablenkens. Roswitha lehnt den Drogenkonsum völlig ab. 

Auf die Frage, ob sich die drei als einen modernen Hippie bezeichnen würden, antwortete Francesco, dass er sich trotz überschneidender Geisteshaltung nicht als modernen Hippie bezeichnen würde, weil er mit dem in der Gesellschaft existenten Bild eines Hippies nicht direkt assoziiert werden möchte. Roswitha teilt ebenfalls viele Werte der Geisteshaltung der Hippiebewegung, definiert sich aber nicht über die Hippiekultur. Dimitri sieht sich als modernen Hippie, betont aber, dass sich der Ursprung seiner Geisteshaltung nicht aus der traditionellen Hippiekultur herauskristallisiert hat. Er ergänzt: „Das Bedürfnis nach Frieden, Liebe und Sinnhaftigkeit sitzt in uns allen, bei einigen bewusst, bei anderen weniger bewusst.“

Auf die Frage nach Unterschieden zwischen der traditionellen und der modernen Hippiekultur waren sich die Befragten einig, dass die moderne Hippiekultur deutlich stärker mit dem „normalen“ Leben verschmolzen ist als es früher war. Dies ermöglichte laut Francesco, dass die „Menschen im Allgemeinen offener zu den Ansichten der Kultur geworden sind.“ Roswitha betont die Rolle von Social Media für die Verbreitung und das Ausleben der modernen Hippiekultur, während Dimitri auf die Verflechtung der traditionellen und modernen Lebensverhältnisse eingeht und sagt: „Es ist […] der am Schreibtisch sitzende Industriemechaniker oder der Inhaber eines Beratungsunternehmens, in denen der moderne Hippie steckt.“

Francesco beendet das Interview mit den Worten: „Oder das moderne Leben ist einfach mehr Hippie geworden.“ 

Unser Fazit 

Aus den Interviews und unserer Recherche lässt sich definitiv eine Transformation der traditionellen Hippiekultur in die Moderne feststellen. Es ist erstaunlich, wie groß die Parallelen der Geisteshaltungen sind und wie unterschiedlich doch die Auslebung jener ist. Der Aspekt der Präsentation nach außen als abgeschottete Gruppe und der Distinktionsgedanke scheint der modernen Hippiekultur nicht mehr so wichtig zu sein. Womöglich liegt das moderne Hippietum auch in den Werten der sogenannten Gen Z verborgen. Freiheit und Toleranz spielen in zeitgenössischen Debatten eine große Rolle. Steigende Zahlen pflanzlicher Ernährung, Umweltschutz und Protestaktionen wie beispielsweise die Kämpfe um den Hambacher Forst sind moderne Bewegungen und Ereignisse, die sich nah an den Motiven der traditionellen Hippiekultur bewegen. Das Entstehen der Content Creation als Berufsfeld hebt sich von herkömmlichen bürgerlichen Berufen ab und ermöglicht ein hohes Maß an Freiheit und Selbstverwirklichung. Coronabedingtes Home-Office kann ebenfalls zu einer selbstbestimmteren Arbeitskultur geführt haben und führen. 

Ob die moderne Hippiekultur ein Erzeugnis der einer Generation innewohnenden Werte ist, lässt sich in diesem Rahmen nur spekulativ beantworten. Den Abschluss macht das nicht an Pathos mangelnde Ende unseres ersten Interviews: „Wir sollten uns öfter fragen: was würde die Liebe tun?“ 

*Die Namen wurden von der Redaktion geändert.


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