Mein Leben mit MS

Autorin: Saskia Ziemacki | Elke sitzt seit knapp zehn Jahren im Rollstuhl. [Foto: Saskia Ziemacki] | Dieser Artikel wurde im Oktober 2021 erstveröffentlicht.

Elke leidet unter der Krankheit Multiple Sklerose (MS), einer chronischen Krankheit des Nervensystems. Da sie auf dem Land kein selbstbestimmtes Leben mehr führen kann, hat sie sich entschieden, alleine nach Essen in die Großstadt zu ziehen. Doch auch dort ist sie ab und zu auf Unterstützung angewiesen. 

Ich bücke mich runter, um Elkes Wohnungstür zu öffnen. Die Griffe sind tiefer als gewohnt, denn ihre Wohnung ist rollstuhlgerecht. Zwei Jahre hat die Anfang 60-Jährige nach so einer Wohnung gesucht. „Ich habe in einem wunderschönen Naturschutzgebiet gewohnt, wo andere Leute Urlaub machen“, schwärmt Elke. „Aber ich konnte nichts mehr machen. In einer Kleinstadt sind überall Stufen. Man kommt nirgendwo hin“, erzählt sie frustriert. Ab dem Tag, an dem sie kein Auto mehr fahren konnte, wollte sie in eine Großstadt. Das Neubaugebiet in der sogenannten „grünen Mitte“ der Essener Innenstadt, in dem sie nun wohnt, wurde von der Architektenkammer entworfen. Früher war sie selbst Architektin und bezieht seit ihrer Arbeitsunfähigkeit Rente von der Kammer. Doch auch dieses Haus hat seine Tücken. Die Tür zum Gebäudeeingang ist massiv und schwer. „Wenn ich eine Schwäche im Arm bekomme, kann ich die Tür nicht mehr öffnen“, sagt Elke. 

Wir begeben uns über einen Aufzug in die Tiefgarage zu ihrem Auto. Das wird entweder von einem ihrer beiden Söhne genutzt, wenn sie sie besuchen kommen, oder von mir, wenn ich Elke zu ihrer 87-jährigen Mutter ins Seniorenheim bringe. Das ist im Moment die einzige Unterstützung, die sie noch braucht. Denn nach neun Monaten Wartezeit kann sie endlich bei einem Lieferdienst ihre Lebensmittel bestellen. Einkaufen in der Essener Innenstadt mit einem elektronischen Rollstuhl ist nahezu unmöglich. Die Gänge sind zu schmal und mit einem normalen Rollstuhl schafft sie es bei dem Gefälle in der Stadt nicht einmal dorthin. U-Bahn fahren darf sie mit ihrem Scooter nicht. Denn der hat keine Feststellbremse und entspricht damit nicht den Vorschriften für den öffentlichen Nahverkehr. „Ich habe der Krankenkasse gesagt, dass mein Scooter nicht mehr zu meinem Lebensumfeld passt, aber das ist denen egal. Da können die wie immer nichts tun“, so Elke. 

Auf dem Land waren die Supermärkte noch großflächig. In Essen ist das anders geworden. [Foto: Saskia Ziemacki]

Die Diagnose

Nachdem ich den Rollstuhl in den Kofferraum verfrachtet habe, fahren wir Richtung Seniorenheim und Elke erzählt von ihrer Krankheit: „1997 hatte ich meinen ersten Schub. Ich war 37.“ Innerhalb von zwei Tagen bekommt sie aus dem Nichts eine Querschnittslähmung. „Die kam angeflogen wie eine Grippe und dann bin ich in die Klinik. Sie haben mich nicht behandelt, denn für eine Diagnose war es zu früh“, sagt Elke. Nach zwei Wochen wird sie wieder entlassen, obwohl sie sich nicht bewegen kann. Nach drei Monaten ist alles wieder verschwunden. Anderthalb Jahre später bekommt sie den zweiten Schub. In der Neurologie einer Klinik in Duisburg bestätigt sich der Verdacht: Multiple Sklerose. „Von da an habe ich ganz viele Schübe bekommen“, so Elke. „2002 wurde es ganz schlimm. Bis dahin habe ich noch gearbeitet, bis die Krankenkasse gesagt hat, dass ich aufhören muss.“ 

Bei einem Schub bekommt man unterschiedliche Störungen. „Beim ersten Schub habe ich eine Fahrradtour mit der Familie gemacht. Dann habe ich schon gemerkt, dass ich kein Gefühl mehr in den Beinen habe. Ich konnte nicht mehr sitzen, ich konnte nicht mehr das Gleichgewicht halten, weil meine Beine sich tonnenschwer angefühlt haben. Das ging bis unter die Arme und dann konnte ich mich gar nicht mehr bewegen.“ Man spricht von einem Schub, wenn er länger als 24 Stunden andauert. Dann sollte man zum Arzt gehen. In der Regel wird eine Kortisontherapie gemacht. Man bekommt drei bis fünf Tage hintereinander hochdosierte Infusionen. „Beim nächsten Schub war ich mit der Klasse meines Sohnes Schlittschuhlaufen. Von einer Sekunde auf die andere war ich blind und hatte höllische Schmerzen, ausgelöst von einer Sehnerventzündung, die bald wieder weg war. Ich musste ins Auto getragen werden. Diese Dramatik war mir furchtbar peinlich“, offenbart Elke.  

Sogar im Urlaub ist Elke auf besondere Rollstühle wie hier am Strand angewiesen [Foto: Saskia Ziemacki]

Die Therapie

„Ich habe viele Therapien gemacht und die Nebenwirkungen waren noch viel schlimmer als die MS selber“, erzählt Elke. Ein Medikament muss sie sich eine Zeitlang täglich selbst spritzen. „Alle Einstichstellen haben sich entzündet, also fast der ganze Körper.“ Stattdessen bekommt sie dann ein anderes Medikament, das nur einmal die Woche gespritzt wird. „Da habe ich noch gearbeitet, deshalb habe ich es immer freitags bekommen.“ Doch davon bekommt sie jedes Mal hohes Fieber und Grippesymptome. „Dann geht es dir eh schon nicht gut, du warst die ganze Woche arbeiten und dann liegst du noch am Wochenende mit Schüttelfrost und Fieber im Bett“, schildert sie.

Wieder bekommt sie ein anderes Medikament verschrieben. Doch von dem fühlt sie sich, als würde sie Stromstöße bekommen, erzählt Elke. „Dann fing ich plötzlich an, mich unter Krämpfen wie eine Epileptikerin zu bewegen und das tat weh.“ Das nächste Mittel erhält sie als Infusion im Krankenhaus. „Da ging es mir wirklich gut. Aber davon gab es einige Todesfälle. Also musste ich auch damit aufhören“, sagt sie. „2012 hatte ich einen großen Schub. Von da an ging es dann immer schlechter.“ Sie entwickelt eine Gehbehinderung und ist seit 2014 auf den Rollstuhl angewiesen. 

„An einem Weihnachten zu Beginn meiner Gehbehinderung kam mein Sohn mich besuchen und hob mich in einer Umarmung hoch. Als er mich wieder absetzte, konnte ich meinen Fuß nicht richtig aufstellen und mein Mittelfußknochen brach“, erinnert sich Elke. Sie bekommt einen Gips, der die Spastik im Bein noch verschlimmert. Mit Knochen hat die MS jedoch nichts zu tun. Das Gehirn und das Rückenmark steuern die Bewegungen. Hat man einen Schub und somit eine Entzündung, vernarbt sich die Schutzschicht um die Nervenbahnen. „Je mehr Schübe du bekommst, desto mehr Baustellen hast du. So habe ich das auch den Kindern erklärt, als sie kleiner waren“, erzählt Elke. „Beim MRT haben sie festgestellt, dass ich 40 Narben im Gehirn habe. Das kann auch auf die mentale Gesundheit schlagen“, verrät Elke nun leise. „Es gab Momente bei den Behandlungen, da war ich kein Mensch mehr. Da habe ich zu meinen Söhnen gesagt: ‚Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr.‘“, gibt sie zu. Doch inzwischen ist es besser geworden. Eine neue Therapie und regelmäßige Rehas helfen. 

Das Leben in Essen 

„Ich fühle mich wohl in der Großstadt. Hindernisse wird es immer und überall geben, aber hier immerhin ein bisschen weniger“, sagt Elke lachend. Das größte Hindernis: der Toilettengang. Denn die meisten WCs in Restaurants oder öffentlichen Gebäuden sind nur über Stufen zu erreichen. Bei einem Malkurs in der Volkshochschule ist Elke besonders frustriert, denn die behindertengerechte Toilette ist nur mit einem Schlüssel zugänglich. Den muss sie für 20 Euro bei einer Firma beantragen, die europaweit spezielle Toiletteninstallation einbaut. „Jeder hat doch ein Recht darauf, eine Toilette benutzen zu können. Ich als behinderte Person darf das nicht und muss vorher den Zugang kaufen“, sagt sie verärgert. 

Einer ihrer Söhne ist ebenfalls Architekt geworden und will sich in Zukunft für die Belange Behinderter einsetzen. „Wenn man nicht selber betroffen ist, denkt man sich nichts bei einer einzelnen Stufe oder einer schmalen Tür. Mein Sohn hat eine andere Sicht auf die Dinge“, erklärt Elke. Wir sind am Seniorenheim angekommen und ihre Mutter steht winkend in der Tür. „Wir sind dir beide so dankbar, dass wir uns noch sehen können“, sagt sie und verabschiedet sich freudestrahlend von mir. 


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