Mein erstes Mal im Stadion: Eine teilnehmende Beobachtung

Artikel: Anna Olivia Böke | Das Westfalenstadion fasst 81.365 Menschen und hat die höchste Besucher:innen-Quote in ganz Europa. [Foto: Anna Olivia Böke]

Zwischen Sportlichkeit und Konsum: In unserer neusten Kolumne berichtet unsere Redakteurin über ihren ersten Besuch im Fußballstadion.

Seit etwa zweieinhalb Jahren lebe ich nun in Dortmund. Mit Fußball hatte ich vorher  so gut wie nichts am Hut, denn es war in meiner Heimatstadt Kiel auch nicht so eine große Sache, zumindest nicht in meinem familiären Kosmos. Es färbte von nirgendwo auf mich ab. Sport war generell nie mein Ding, denn bei dem Gedanken an körperliche Anstrengung verspüre ich tiefe Abneigung. Im Sportunterricht wurde ich meist als eine der Letzten ins Team gewählt und hatte eher Angst vor Bällen. Spielregeln generell treffen bei meinem Hirn auf einen blinden Fleck – ob Gesellschaftsspiel oder Sport. Es ist kein Geheimnis: Ich bin kein Fußballfan.

Dann habe ich aber nach dem Umzug einen Freund kennengelernt, der in Dortmund aufgewachsen ist und fast jedes Spiel im Stadion sieht. Ich habe eine ganz neue Perspektive auf den Sport und die ganze Welt drum herum kennengelernt – und zwar eine euphorisierte, aber reflektierte und auch kritische Perspektive. Mein Interesse wuchs. Ich näherte mich über Monate dem Sport an, indem ich Spiele mitgeschaut habe, viele Unterhaltungen über die kapitalistische Maschinerie und die FLINTA* exklusive Natur des Männersports geführt habe. Ich fragte mich immer mehr: Wie fühlt es sich an, dort zu stehen?

Nun war der Tag gekommen. Eine Karte war frei. Ich hatte Zeit und ich durfte mitkommen zum Spiel Dortmund vs. Hoffenheim am 25.02.2024. Ich wollte teilnehmen und beobachten. An einem selten sonnigen Sonntag im Februar schlenderten wir also mit einem Bier in der Hand durch die ganze Stadt. Vor dem Stadion angekommen, überkam mich ein sonderbares Gefühl, ähnlich wie auf einem Festival. Die überwältigenden Menschenmassen, die sich auf die Sicherheitskontrollen zubewegten, faszinierten mich und gleichzeitig fühlte ich mich undercover, als könnte ich jeden Moment auffliegen und als Touristin enttarnt werden, aber ich stellte mich glücklicherweise nicht zu dumm an.

Drinnen angekommen, kam ich ins Staunen beim ersten Anblick der Ränge. Es war noch über eine Stunde bis Anstoß – genug Zeit für eine vegane Currywurst. Auf der Südtribüne in Block 84 angekommen ging es, nach einigen rituellen Gesängen, Schal-Choreografien und Fahnenschwenken, bei denen meine Begleitung lauthals mitgrölte und mir zwischendurch detaillierte Hintergrundinformationen zuspielte, los.

Bevor ich wirklich angekommen war und mich auf das Spiel einlassen konnte, fiel schon das erste Tor – für Hoffenheim. Die Stimmung kippte, aber die Massen berappelten sich schnell und riefen danach umso lauter. Im Kontrast dazu, als später im Spiel ein Tor für Dortmund fiel, wusste ich auch nicht wie mir geschieht. Plötzlich hatte ich Bier im Gesicht und verspürte Freude, Euphorie und ein Gefühl von Extase. Erst dann verstand ich, was passiert ist.

Das Stadion scheint mir im Nachhinein ein Ort der Dichotomie, Gegensätze und Kontraste zu sein. Man beobachtet zum Beispiel Menschen mit „Männerhandtaschen” (yup, das sind Papphalterungen für Bierbecher) mit Anti-Rassismus aufdrucken. Zudem ist das Spiel an sich eine große sportliche Anstrengung der Spieler, die dem Alkohol, Wurst und Rauch-Konsum der Zuschauer:innen (mir inklusive) gegenüberstehen. Es ist ein spannendes Feld.

In der Halbzeit und in Momenten der Freude oder Enttäuschung unterhält man sich mit seinen Nachbar:innen. Neben uns stand ein frisches Pärchen. Er Schalke-Fan, sie Dortmund-Fan. Die beiden erzählen, dass sie abwechselnd zu Spielen des anderen gehen – in voller Montur. So konnten wir mich mit positiver Reaktion als Neuling outen. Ein seltenes Bild laut meines Kumpels. Wenn sich doch alle Fans, Religionsgemeinschaften und andere Gruppen in der Welt so einigen und Kompromisse eingehen könnten, ging mir in dem Moment durch den Kopf. 

Über den Abend ist mir vor allem eines eingeleuchtet: Es geht um ein Miteinander, Gemeinschaft, Geborgenheit, Nächstenliebe (zumindest innerhalb der Fangemeinde), Menschlichkeit, Treue und Loyalität gegenüber des Teams für das man sich entschieden hat – dem Fremden in den Armen zu liegen und zusammen zu Jubeln oder zu Trauern und Emotionen zu teilen. Es entsteht eine Wärme, die das Ruhrgebiet nicht nur innerhalb des Fußballs ausstrahlt.

Dieses Gesamtbild entsteht durch viele Faktoren. Was ich zum Beispiel als Kind aus den Fernseherlautsprechern eher als ASMR empfunden habe, nämlich die Fangesänge und Trommeln, kommen nicht von nirgendwo her. Fanclubs, wie die Ultras, machen sich große Mühe, um ihr Team zu unterstützen. Dabei sind viele schon Stunden vor Anstoß vor Ort oder fahren in andere Städte und Länder.

Eher weniger erfreulich an meiner ersten Stadionerfahrung war der Halbzeit-Toilettengang. Nachdem ich mich insgeheim schon gefreut hatte, mich an einem Ort zu befinden, wo Männer länger anstehen müssen als die deutlich weniger repräsentierten FLINTA* Personen, hatte ich mich tiefst getäuscht. Eine von zwei Toiletten auf der Ebene war auch noch außer Betrieb und die Wartezeit lang. Nachdem ich es zurück geschafft hatte, fielen noch einige Tore, jedoch ging das Spiel 3:2 für Hoffenheim aus. Das Stadion voller enttäuschter Fußballfans war deutlich schneller leer als es voll war, aber alles war friedlich. Noch ein, zwei Bier bei Steffi’s Anstoß und dann ging es nach Hause.

Mein Fazit ist vor allem, dass zwar viele Vorurteile stimmen, aber es auch viele junge, engagierte Menschen gibt, die hart dafür arbeiten, nicht nur ein Image des Männerfußballs zu verändern, sondern auch nachhaltig die Haltung der Fangemeinschaften. Es ist ein Grund mehr ins Stadion zu gehen und genau diese junge Generation zu repräsentieren, denn es braucht Leute wie meinen Kumpel, die auch als Fan das System kritisch hinterfragen und sich gegen Rassismus stellen. 

Es ist noch ein Weg zu gehen, vielleicht sind mehr FLINTA* Toiletten ein nächster Schritt für mehr Diversität im Stadion, aber es tut sich etwas und ich ging mit einem guten Gefühl nach Hause. Vielleicht war das teils den drei Bieren zu verschulden, die ich bereits getrunken hatte, aber vor allem fühlte ich mich angenommen, inspiriert und erinnert daran, wie wichtig es ist sich auch mal außerhalb seiner Bubble zu bewegen, denn nur durch Reibung entsteht Fortschritt.


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