Im Büroregal: Was liest… Prof. Dr. Christoph Heyl? 

Artikel: Rabea Jung | Hier bekommt ihr einen Einblick in die Büroregale von Prof. Dr. Christoph Heyl. [Foto: Rabea Jung]

Habt ihr euch jemals während einer Sprechstunde gewünscht, die Büroregale eures Dozierenden genauer unter die Lupe nehmen zu können? Dieser Artikel ermöglicht es euch! Wir nehmen euch mit ins Büro von Christoph Heyl, Professor für anglistische Literaturwissenschaft am Campus Essen. 

Im Büro von Prof. Dr. Christoph Heyl finden sich nicht nur Bücher, sondern auch Gegenstände, die mit seinen Seminaren korrespondieren: „Ich bin jemand, der sich sehr für Objekte interessiert, also ist hier viel Kram“. Neben Instrumenten, Teezubehör, und physischen Readern aus der Prä-Pandemie-Zeit finden sich hier auch diverse Memorabilien, die sich über die Jahre angesammelt haben. So sind die Regale nicht nur gefüllt mit Büchern, sondern auch mit Erinnerungen an verstorbene Kollegen, Freunde, Lieblingsorte und alte Arbeitsplätze. Zur Organisation seiner Regale fragt der Professor sich: „Welche Organisation?“ Sein System sei „chaotisch, weil das mit der Arbeitswirklichkeit zu tun hat. Es kann sein, dass ich mitten im Seminar ein Buch hole und es danach wieder irgendwohin zurückstelle, weil gerade mal wieder fünf Dinge gleichzeitig zu tun sind“. Trotzdem wisse er, wo was steht. Da die eigentliche Forschung „so gut wie nie im Büro stattfindet“, sondern dieses eher als Ort für Kommunikation, ob in Person oder per Mail, und Organisation fungiere, sei seine Büchersammlung hier „relativ klein“.

„Die Leute waren konzentriert auf Hamlet und Hühnerbein gleichzeitig.“

Seit den Einbrüchen am Essener Campus befindet sich im Büro von Christoph Heyl „nichts mehr von Wert“. Objekte, die ihm am Herzen liegen, bringt er mittlerweile nur noch gezielt für Kurse mit. Ein Beispiel: die Shakespeare-Auster. Als sich Heyl für ein Auslandssemester 1988/89 in London befand, wurden Fragmente des Globe Theatre ausgegraben, und er hatte durch seinen Professor „das Glück, bei den Ausgrabungen dabei zu sein“. Als der Zuschauerraum freigelegt war und Heyl dort stand, wo die Menschen in Shakespeares Zeit gestanden haben, sah er auf den Boden, der nach kurzer Verwunderung „bei allen einen Lachkrampf auslöste“: Der Boden bestand aus Nuss- und Austernschalen sowie Tierknochen – ein Zeichen, dass die Leute während der Vorführungen gegessen haben. „Diesen Moment werde ich in meinem Leben nicht vergessen“, so der Professor. Eine Austernschale durfte er für Unterrichtszwecke mitnehmen, da „das Bild nicht den Gegenstand ersetzt und etwas physisch zu haben, was damals im Raum gewesen ist, Kopfkino macht. Die Leute waren konzentriert auf Hamlet und Hühnerbein gleichzeitig und haben damals auch Sachen auf die Bühne geschmissen, wenn es nicht so gut lief“. 

„Ein guter Text ist nie ausgelesen, ein guter Text wirkt in verschiedenen Lebensphasen.“

Seinen Fokus setzt der Professor auf das 17. und 18. Jahrhundert, London, Schottland und Indien. Auch wichtig für seine Forschung sind Shakespeare und Musik, was sich auch in seinen Regalen spiegelt. Da Heyl in einer Zeit studiert hat, „in der es leichter war, sich Schwerpunkte zusammenzubauen“, hat er unter anderem noch Theologie, Kunstgeschichte und Archäologie studiert, um „Geschichte und Literatur zusammenbringen“ zu können. Retrospektiv könnte er einige seiner Interessen auf sein Studium zurückführen: „Manchmal passieren Dinge auf eine gute Weise“, reflektiert Heyl über den Weg zu seinen Forschungsschwerpunkten. So beispielsweise sein Interesse an den frühen graphic novels des englischen Künstlers William Hogarth, von dem er durch ein Seminar in seinem ersten Semester hörte, das er eigentlich noch gar nicht hätte belegen dürfen. Auch das erstmals in 1731 erschienene Londoner Gentleman’s Magazine, essenziell für seine Forschung und zu Beginn dieser noch nicht in digitaler Form erhältlich, sei „nach wie vor wichtig“, da seine Doktorandin Anjali Rampersad dieses nun für ihre eigene Forschung nutzt. Ebenfalls essenzielle Werke für Heyls Forschung: „Hogarth’s Graphic Works von Ronald Paulson, das ist die Hogarth-Bibel“ sowie Strukturwandel der Öffentlichkeit von Jürgen Habermas, ein Buch, das für Heyls Dissertation zur Genese der Privatsphäre im London des 18. Jahrhunderts als „Sprungbrett“ fungierte. Generell ist sein „Weg in ein neues Thema immer gewesen, ganz viele Primärtexte kennenzulernen“, bevor Werke der Sekundärliteratur potenziell „nochmal eine neue Welt aufmachen können“. 

„Quellen müssen sichtbar sein.“

Aktuell arbeitet Heyl neben kleineren Publikationen hauptsächlich an zwei „Herzensangelegenheiten“ – einer aktualisierten Version seines Werks Kleine Englische Literaturgeschichte (2020), welches er jetzt, nach Brexit, Covid, und Kriegsbeginnen, neu und in englischer Sprache verfasst. Ebenso arbeitete Heyl gemeinsam mit Autor Richard Aronowitz an einer Edition von Das Lagertagebuch des Isy Aronowitz, welches Aronowitz’ Erfahrungen in der NS-Zeit, während der er Ghetto, Zwangslager und Auschwitz überlebte, dokumentiert. „Das ist das politisch relevanteste Projekt. In einer Zeit, in der wir einen Aufschwung der politischen Rechten haben, muss so eine Quelle sichtbar sein. Die Hoffnung ist, Auszüge dieser Edition für den Geschichtsunterricht nutzen zu können“, um das kollektive Bewusstsein zu stärken und vor dem Vergessen zu bewahren.

„Literaturwissenschaftliches Lesen ist wie Spaghetti essen.“


Statt Pflichtlektüre gibt Heyl Studierenden einen Rat: „Finden Sie persönliche Lieblingsbücher, die Ihnen so lieb sind wie vielleicht ein Lieblingsraum in der Wohnung. Da können Sie dann immer wieder hin, wenn es Ihnen gut oder schlecht geht im Leben“. Für ihn selbst sind das beispielsweise Werke wie Cannery Row von John Steinbeck, Der Stechlin von Fontane und die Gespenstergeschichten von M.R. James. Fachbezogen würde er – da „Literatur keine Grenzen respektiert, das heißt, es gibt immer Einflüsse, die von woanders herkommen“ – Werke wie Die Odyssee von Homer und die Metamorphosen von Ovid empfehlen. Weiterhin wichtig sei die Bibel in der King James Version. Hervorzuheben sei jedoch, dass es „bei dem, was wir in unserem Fach tun, weder bei der Bibel noch bei den Metamorphosen um Glauben, sondern um Kennen geht“, so der Professor. „Sie werden nicht Teil heidnischer Religionen, wenn Sie Ovid lesen, aber das sind Texte, die für Leute in der Vergangenheit sehr wichtig waren“, weshalb ihr Einfluss auf die englische Literatur „enorm“ war. Dieser Einfluss sei nur sichtbar, „wenn wir mit diesen Texten vertraut sind.“ Früher entdeckt hätte Heyl gerne die „unglaublich glänzende Prosa“ von R. John Banville sowie Parade’s End von Ford Madox Ford gelesen, ein Buch, das zeige, dass der Modernismus viele Seiten hat und ganz anders gestaltet sein kann als bei Joyce. Das Schöne für ihn am Beruf: „Man kann auch später noch neue Themen finden“. Die Verbindung zwischen Texten sei für den Professor besonders spannend: „Literaturwissenschaftliches Lesen ist so wie Spaghetti essen – Sie haben eine ganze Schüssel und versuchen eine rauszuziehen, und sie bricht entweder ab, oder zieht noch mehr mit raus. Je mehr Bezugstexte Sie kennen, desto mehr verstehen Sie, und es macht immer mehr Spaß, je mehr man kennt.“


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