Die elektronische Patientenakte kommt

Artikel: Magdalena Kensy | 21.07.2021

Wer zu einem neuen Arzt oder neuen Ärztin geht, erzählt seine bisherige Krankengeschichte jedes mal aufs neue. Damit könnte bald Schluss sein. Zum 1. Juli soll die elektronische Patientenakte (ePA) flächendeckend für (Zahn-)Ärzt:innen gesetzmäßig verpflichtend eingeführt werden. Wie das funktionieren soll und welche Vor- und Nachteile das für Patient:innen haben kann, hat Dr. Hermann Römer, Facharzt für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums Essen (UE), erklärt.

„Die elektronische Patientenakte wird seit Jahren diskutiert und die Erfahrungen sind dünn“, berichtet Dr. Hermann Römer. Die ePA ist bereits seit 2004 im Gespräch. Sie soll als eine digitale Akte dienen, in der Dateien von medizinischen Dokumenten zentral gespeichert werden. Ab dem 1. Juli ist es Versicherten möglich, ihre elektronische Gesundheitskarte mit einer PIN, die von der Krankenkasse zugestellt wird, direkt in der Haus-/Zahn-/Ärzt:innenpraxis zu nutzen. 

Die Sorge, die digitalen Krankenakten könnten in falsche Hände, wie dem Arbeitgeber, geraten, ist bei vielen Menschen groß. Arbeitnehmende sind nicht verpflichtet den Arbeitgeber gegenüber die Krankengeschichte vorzulegen. Für Arbeiter:innen können bei der Offenlegung Nachteile entstehen, wodurch sie vielleicht nicht in ihren vorherigen Job zurückkehren können. Bei einer Krankschreibung ohne weitere Erläuterung werden Patient:innen vor dem Arbeitgebenen geschützt. „Sie erhalten einen neuen elektronischen Arztausweis, der ist individuell auf Sie zugeschnitten. Das Risiko ist genauso gering, wie dass die Bankkarte gestohlen wird und der Versuch, damit Geld abzuheben“, versucht Römer die Sorge zu nehmen.

Die PIN, mit der Ärzt:innen, Therapeut:innen oder Apotheken auf die ePA zugreifen können, geben die Patient:innen selbst frei – entweder nur für die aktuelle Behandlung oder für einen längeren Zeitraum, zum Beispiel in der Hausarztpraxis. 

Römer findet die Angst vor Datenmissbrauch paradox: „Patienten haben ein sehr unterschiedliches Gefühl von Datensicherheit. Sie sitzen im Wartezimmer und erzählen gegenüber Nachbarn oder Fremden was für Krankheitsbilder sie haben, aber bei weniger sensiblen Daten haben sie Angst, dass diese missbraucht werden könnten.“

Die Vor- und Nachteile für Ärzt:innen und Patient:innen 

Doch wer wird in Zukunft die ePA nutzen? Aus Sicht von Dr. Hermann Römer ist sie bei Menschen, die neue Ärzt:innen aufsuchen oder bei lang zurückliegenden Krankheiten, besonders sinnvoll. „Wenn ich einen Patienten habe und die ePA so weit ausgereift ist, dass ich alle Informationen habe, die der Patient vielleicht nicht im einzelnen wiedergeben kann, ist es für beide ein Gewinn. Ich kann das Anamnese-Gespräch besser durchführen“, schildert Römer die Vorteile. Laut dem Facharzt sei es ein häufiges Phänomen, dass sich Patient:innen nicht detailliert an ihre Krankheitsgeschichten erinnern. 

Dennoch kann die Bündelung von Daten auch Nachteile haben. Laut Römer gibt es einen bestimmten Zeitraum, in dem ein:e Patient:in in der Sprechstunde behandelt wird. Wenn zu viele Informationen in der Akte enthalten sind, kann nicht alles innerhalb der Sprechstunde thematisiert werden und der Überblick über die wichtigen Inhalte geht verloren. „Wie kann ich bei über 50 Seiten schnell analysieren, was gut und was schlecht ist“, kritisiert Römer. 

Gegenstimmen und Dr. Google

Die ePA hat bereits zwei Testphasen hinter sich. Krankenhäuser bekommen dennoch eine Fristverlängerung zur Einführung bis zum 01. Januar 2022. Grund dafür ist eine aufwändigere und umfangreichere Umstellung, die so großen Apparaten Probleme bereite, so Römer. 

Römer sieht ein essenzielles Problem in der ePa-Einführung. „Das System ist noch nicht ausgereift. Wir bekommen einen elektronischen Arztausweis, der sehr kostspielig ist und den die Ärzte selbst bezahlen müssen. Das Prinzip, wie ich mich als Arzt in der Praxis mit dem Ausweis identifiziere, ist auch noch nicht ganz klar.“ Eine weitere ungeklärte Frage sei, wie Ärzt:innen in Zukunft Rezepte schreiben können. Wie gewohnt an der Anmeldung oder nur im Arbeitszimmer. Die Möglichkeit, die Behandlungszimmer, zu verbinden, bestehe bislang noch nicht. 

Gegner argumentieren, dass mit der Einführung der ePA öfter Fehldiagnosen gestellt werden können, wenn eine Zweitmeinung eingeholt wird. Aus medizinischer Sicht findet Dr. Römer die Meinung weiterer Fachkolleg:innen jedoch als einen Vorteil. Beispielsweise bei der Verschreibung von Medikamenten ist auf Wechselwirkungen zu achten: „Neurologische Medikamente wie Beruhigungsmittel haben häufig Interaktionen mit anderen Medikamenten. Dadurch kann es zu einer Fehlwirkung oder gar keiner Wirkung kommen.“ Fehldiagnosen schließt Römer deshalb aus.

Nach ihm kommt es eher zu anderen Diagnosen, da vieles unterschiedlich eingeschätzte werden kann. „Anders heißt nicht unbedingt falsch. Es ist einfach anders“, entkräftet Römer das Argument der Gegner. Er fügt hinzu: „Es ist heutzutage ein Problem, dass medizinische Informationen mit Dr. Google leicht zugänglich sind. Das Meiste bei Dr. Google ist falsch. Jeder kann da etwas nach seinen eigenen Interessen reinschreiben.“ Für Römer ist die Einführung der ePA keine größere Bedrohung für Fehldiagnosen, als das Ergoogeln von Krankheitssymptomen. Insgesamt überwiegen für ihn die Vorteile. Wie die elektronische Patientenakte in der Praxis handbar ist, wird sich noch zeigen.


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