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Alltag und Gedenken – ist beides möglich?

Wann und wie wird aus einem Ort, an dem NationalsozialistInnen grausam mordeten, ein Ort des Gedenkens? [Illustration: Nanna Zimmermann]

Transparenzhinweis: Dieser Artikel wurde im März 2022 verfasst und das erste Mal auf unserer alten Website akduell.de hochgeladen.

Bis zu 250 Regimegegner:innen wurden im Konzentrationslager in der Bochumer Zeche Gibraltar 1933 brutal gefoltert. Die Gebäude der alten Zeche sind längst in die Alltagsnutzung übergegangen, ihre Vergangenheit kennen viele nicht. Warum wird an einem solchen Ort so wenig an die grausame Geschichte erinnert? Welche Hürden müssen überwunden werden, damit aus einem Ort wie der Zeche eine Gedenkstätte werden kann? Und was ist, wenn die Hürden zu groß sind, um in Kauf genommen zu werden?

In Teilen des Gebäudes des ehemaligen Konzentrationslagers Gibraltar werden heutzutage Hochzeiten und andere Events gefeiert (ak[due]ll berichtete). Eine Bronzetafel erinnert an die gefolterten Regimegegner:innen – aber nur diejenigen, die von der Tafel wissen. Sie hängt unauffällig an der Rückseite des Gebäudes der alten Zeche. Dabei gäbe es neben dem plastischen Werk noch weitere, wenn auch (finanziell) aufwendigere Möglichkeiten, um über die schrecklichen Verbrechen in dem Konzentrationslager Gibraltar aufzuklären.

Neben einem Mahnmal, das meist aus dauerhaften Materialien wie Bronze oder Stein besteht, um an die Opfer historischer Ereignisse zu erinnern, kann eine Gedenkstätte errichtet werden. Hierdurch können mehrere Elemente, zum Beispiel materielle Ressourcen wie authentische Relikte oder auch Mahnmale dazu genutzt werden, um die Geschichte eines Ortes zu vermitteln. Durch Aufklärung über die Vergangenheit werden unter anderem pädagogische Ziele verfolgt, sie soll Personen dazu anregen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und für Verbrechen sensibilisieren.

Es ist Aufgabe der Kulturpolitik, die Erhaltung von geschichtsbedeutenden Denkmälern gesetzlich zu sichern. In NRW wird Näheres durch das Gesetz zum Schutz und zur Pflege der Denkmäler vom 11. März 1980 geregelt. Um Pläne einer Gedenkstätte aber in die Realität umzusetzen, braucht es zunächst Engagement. „Oft sind es zivilgesellschaftliche Akteure, die solche Pläne auf den Weg bringen. Dann bilden sich lokale Initiativen, die Werbung dafür machen und versuchen, die öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen“, erklärt Prof. Dr. Goschler vom historischen Institut der Ruhr-Universität-Bochum. Letztlich ginge es darum, auch politische Entscheidungsträger:innen für sich zu gewinnen und so Gelder für die Finanzierung der Vorhaben zu mobilisieren.

Nicht jeder belastete Ort kann zu einer Gedenkstätte werden

Außerdem reicht eine historische Belastung nicht aus, um einen Ort zu einer Gedenkstätte zu machen. „Es gibt schon jede Menge Gedenkstätten. Das ist natürlich auch eine Konkurrenz. Wenn eine Neue errichtet werden soll, dann muss sie eine Besonderheit aufweisen“, so Goschler. Durch diese müsste die Notwendigkeit für eine weitere Stätte herausgestellt werden. Das könne zum Beispiel ein besonderer Gewaltaspekt sein, der verdeutlicht wird oder das Fehlen von weiteren Gedenkorten in der Region.

Darüber hinaus muss die rechtliche Lage geklärt werden. „Es macht einen Unterschied, ob es um einen Ort geht, der einen privaten Eigentümer hat oder ob er im staatlichen Besitz ist. Die Zeche Gibraltar war ein wildes Konzentrationslager und ist nicht dauerhaft im staatlichen Besitz gewesen.“ Um aus Privatbesitz eine Gedenkstätte zu machen, sei man darauf angewiesen, dass der oder die Besitzer:in den Gedenkaspekt an seinem Eigentum auch dauerhaft zulässt. Das gilt für aufwendige Gedenkstätten-Vorhaben, aber auch für kleinere Arten der Erinnerung, wie die oben genannte Gedenktafel.

Alltagsnutzung als Spiegel wahrer Umstände

Damit eine Gedenkstätte mit Personal und festen Räumlichkeiten errichtet werden und dauerhafte Förderung erhalten kann, muss also einiges erfüllt sein. Nur Engagement und Interesse seitens der Bürger:innen reicht nicht aus. Das Spannungsfeld zwischen den geschichtlichen Ereignissen und einer Alltagsnutzung bleibt deswegen in einigen Fällen bestehen.

„Vielleicht denkt man durch das Gefühl der Zerbrechlichkeit unserer Normalität ein bisschen anders darüber nach. Sieht sie als etwas Kostbares an, das man verteidigen muss, was auch eine Anstrengung erfordert.“

Prof. Dr. Goschler,
Leiter des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum

Die Gedenktafel an dem Zechengebäude Gibraltar gibt denjenigen die Möglichkeit zu erinnern, die wissend sind und die gedenken wollen. Hochzeitspaare schreiben nun ihre eigene Geschichte an diesem Ort. Prof. Dr. Goschler ist der Meinung, dass an diesem Zustand auch etwas verdeutlicht werden kann. „Im Grunde spiegelt das wider, was wir in Situationen, in denen solche Verfolgungen stattfinden, auch antreffen. Auch im Nationalsozialismus lief der Alltag neben der Verfolgung weiter. Auf der einen Seite finden schreckliche Sachen statt und gleichzeitig herrscht eine komische Form von Normalität.“

Als jüngstes Beispiel kann hierfür der Krieg in der Ukraine genannt werden. Während es Tote und Flüchtende gibt, unzählige Verletzte, Verängstigte und Leidende, zeigen Menschen aus anderen Ländern Solidarität und versuchen zu helfen. Und trotzdem gibt es einen Alltag, in den eben diese Menschen wieder zurückkehren. Goschler formuliert die Hoffnung, dass man „vielleicht zumindest die Vorstellung an sich heranlässt, dass die Normalität, in der man lebt, auch fragil ist. Dass man durch das Gefühl der Zerbrechlichkeit unserer Normalität vielleicht ein bisschen anders darüber nachdenkt. Sie als etwas Kostbares ansieht, das man verteidigen muss, was auch eine Anstrengung erfordert.“

Alternatives Gedenken

Mahnmale und Gedenkstätten informieren über die geschichtlichen Ereignisse an dem historischen Ort selbst. Einen alternativen Weg, um für Gedenken und Aufklärung zu sorgen, ohne ein bestimmtes Gebäude dafür dauerhaft pachten zu müssen, hat die Projektgruppe „Lernen durch Erinnern“ von der Ruhr-Universität-Bochum geschaffen. Sie erinnern virtuell an die grausame Vergangenheit belasteter Orte. Projektkoordinator Thorben Pieper erklärt, dass so einerseits gezeigt werden könne, an wie vielen Orten in Bochum NS-Verbrechen begangen wurden. Andererseits könnten dadurch abstrakte Worte wie „der Holocaust“ mit Inhalt gefüllt und das Ausmaß dieser Verbrechen auch in Bochum sichtbargemacht werden.

Auf ihrer Homepage gibt es eine interaktive Karte, die zeigt, welche historischen Orte es in Bochum und Umgebung gibt. Klickt man auf einen gekennzeichneten Standpunkt oder wählt einen aus den rund 560 aufgeführten der Liste aus, öffnet sich eine Informationsbox zur nationalsozialistischen Vergangenheit des Ortes. Darüber hinaus hat das Team GPS-basierte Führungen entwickelt, die man mithilfe der App biparcours oder durch das Herunterladen der PDF-Datei einsehen kann. Wer will, kann so zu jeder Zeit einen alternativen Stadtrundgang einsehen oder ihn durchführen.

Obwohl das Projekt letztlich wegen der Corona-Pandemie virtuell gestaltet wurde, schafft es einen neuen nachhaltigen Weg, um über die NS-Zeit aufzuklären und ihrer Opfer zu gedenken. Pieper erzählt, dass es gerade während des Homeschoolings Lehrer:innen gegeben habe, die Projektinhalte des Teams als Ergänzung zu ihrem Unterricht genutzt haben. Über Social Media seien außerdem bereits Akteure über das Ruhrgebiet hinaus auf die digitale Ausgestaltung des Projektes aufmerksam geworden und haben sich daran ein Beispiel genommen.