Diversität lehren: Ausstellung „Come out, Essen!“ – 100 Jahre lesbisch-schwule Emanzipation

Beitrag: Freya Pauluschke | Illustration: Ilian Kresse

Am 17. März eröffnete die Ausstellung „Come out, Essen!“ in der Bibliothek der Universität Duisburg-Essen (UDE). Sie behandelt 100 Jahre der lesbisch-schwulen Emanzipationsgeschichte in Essen und im Ruhrgebiet. Wir haben mit Wolfgang Berude, der die Sammlung dem Stadtarchiv schenkte, über Diversität in der Lehre und die Errungenschaften der queeren Community in Essen gesprochen.

Vor vierzig Jahren stellte sich Wolfgang Berude die Frage, „wie das Leben der diversen Minderheiten in einer durchs Arbeitermilieu geprägten Industriegesellschaft war“. Jahrelange Recherche im Landesarchiv NRW (damals Hauptstaatsarchiv Düsseldorf), im Bundesarchiv Berlin, in Stadtarchiven im Ruhrgebiet und im Archiv des Schwulen Museums in Berlin führten zu einer beeindruckenden Sammlung an historischem Material. Der „Historiker aus Leidenschaft” entschied sich, seine Sammlung dem Essener Stadtarchiv zu schenken, damit „die Emanzipationsgeschichte der diversen Minderheiten dokumentiert und nicht, wie in den vergangenen Jahrhunderten, nur sehr rudimentär vorhanden ist“.

Die Ausstellung zeigt die Hürden und Meilensteine der lesbisch-schwulen Emanzipation von Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute. Man bekommt einen Einblick in die systematische Diskriminierung und Verfolgung lesbischer Frauen und schwuler Männer zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Kripo und Gestapo nutzten neue Methoden wie die Bildkartei und den gezielten Einsatz von verdeckten Ermittlern, um schwule Männer zu verfolgen. Bis in die 60er Jahre ging die Sittenpolizei im Ruhrgebiet gegen Homosexuelle vor. Briefe an Liebhaber:innen verdeutlichen die Angst und den Kampf der queeren Menschen.

Diversität in der Lehre

Gender, Diversität und Vielfalt scheinen noch nicht lange und nicht an jeder Schule und Hochschule in die Lehrinhalte durchgedrungen zu sein. Trotz der zunehmenden Vielfalt an Studierenden, Lehrenden und Mitarbeitenden und dem damit einhergehenden Ruf mancher Hochschulen als inklusiv und divers ist wenig darüber zu finden, ob Studierende etwas über die LGBTQIA+-Geschichte und -Community lernen.

Warum Diversität in die Lehre an Schulen sowie an Hochschulen integriert werden sollte, zeige vor allem die aktuelle weltweite politische Situation bezüglich Homophobie und Misogynie. „Die NS-Diktatur und die Jahre zwischen 1945 und 1968 in Deutschland sind ein weiterer Beleg dafür, dass die Liberalisierungsphase im Umgang mit und der Respekt vor Minderheiten sehr fragile Errungenschaften sind“, bemerkt Berude. Denn: „Frauen und Männer, die anders leben und lieben, waren und sind Teil der Menschheitsgeschichte, aber selbst hier und jetzt nicht selbstverständlich.“ Umso wichtiger ist es, dass die Geschichte der LGBTQIA+-Community so früh wie möglich in die Lehre beziehungsweise Erziehung integriert wird, damit sich vom stark heteronormativen Denken abgewendet und der queeren Perspektive zugewendet wird. 

„Tatsache ist, dass es bei dem Thema weiterhin sehr viel ‚Schein-Toleranz‘ gibt“, sagt Berude. Wörter wie „lesbisch“ und „schwul“ gelten leider besonders an Schulen als abwertend und ausgrenzend. „Viele Pädagog:innen tun sich sehr schwer damit, wenn ein Anteil von Schüler:innen aus einem Kulturkreis kommt, der keine über 200-jährige ‚Aufklärungs‘-Geschichte mit den gesellschaftlichen Höhen und Tiefen durchlebt hat“, schildert Berude die Problematik. Damit sind beispielsweise Schüler:innen mit muslimischem Hintergrund gemeint, die die europäische Aufklärungskultur nicht kennengelernt haben. Berude bestätigt, dass sich Kinder und Jugendliche aus diesem Kulturkreis mit dem Thema gleichgeschlechtlicher Lebensweisen schwer tun: „Fakt ist, bei meiner letzten Klassenführung durch die Ausstellung waren einige aus einer Realschulklasse sehr ablehnend. Die drastische Ablehnungsform war, ‘dass die alle umgebracht werden müssten’.” Dieses Verhalten sei auch für die Pädagog:innen sehr unangenehm gewesen. Solche Kommentare sind für Berude ein Grund mehr, sich für das Aufklären der Queeren Community einzusetzen. 

Schüler:innen arbeiten NS-Geschichte auf

Neben „Come out, Essen!“ gab es eine kleine Ausstellung von Schüler:innen des Q2-Zusatzkurses Sozialwissenschaften des Helmholtz-Gymnasiums zu sehen: „‘Aus Geschichte lernen‘ Essener Helmholtz-Gymnasium – Revisited!“. Die Schüler:innen setzten sich vor allem mit dem Holocaust und dem Gedenken an die im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Menschen auseinander. Dazu recherchierten sie Biografien ehemaliger Helmholtz-Schüler:innen, die zwischen 1909 und 1932 an der Schule waren und teilweise am Helmholtz-Realgymnasium ihr Abitur absolvierten. Hier unterschieden die Schüler:innen beispielweise zwischen Menschen, die aufgrund ihres jüdischen Glaubens und/oder ihrer Homosexualität Opfer der Nationalsozialisten wurden, und präsentieren deren Lebensgeschichte. Mit dem Schulprojekt wurden Aspekte wie der Übergang 1933 von einer liberalen Schule in die NS-Diktatur und die damit einhergehenden Verhaltensmöglichkeiten in einer Diktatur erarbeitet. Die Projekt-Schüler:innen wollten folgende drei Kriterien aufzeigen und haben anhand dessen Material ausgesucht: Erstens hat jede:r die Möglichkeit, sich in einer Diktatur aktiv menschenverachtend zu verhalten oder überzeugt mitzumachen. Zweitens hat man die Möglichkeit, sich zu entziehen und durch Anpassung Karriere zu machen. Drittens haben Opfer und Minderheiten jedoch keine Wahl in einer Diktatur wie das NS-System.

Seit den 1980er Jahren engagiert sich Wolfgang Berude politisch für Diversität in Essen. [Foto: privat]

Fortschritte der queeren Community in Essen

Erst seit 2017 dürfen gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland heiraten und Kinder adoptieren. Personen des öffentlichen Lebens bekennen sich offen als homosexuell. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verbietet die Diskriminierung der LGBTQIA+-Community. Trotzdem gilt Homosexualität in 67 Ländern als Straftat und in sieben Ländern droht sogar die Todesstrafe. Der Ausdruck trans* und nichtbinärer Geschlechtsidentitäten gilt in neun Ländern als kriminell. In vielen Ländern ist es rechtlich nicht möglich, seinen Geschlechtseintrag zu ändern, in Deutschland ist es mit großen Hürden verbunden.

Die Stadt Essen hat viele Angebote zur lesbisch-schwulen Emanzipation. Laut Berude ist seit 1999 einiges geschehen: „Wir haben in der Aktionsgruppe ‚Forum Essener Lesben und Schwule‘ (FELS) durch öffentliche Demonstrationen den Stadtrat aufgefordert, die gleichgeschlechtliche Vielfalt anzuerkennen und die Diskriminierungen in vielen Bereichen zu bekämpfen.“ So gibt es in der Gleichstellungsstelle der Stadt einen Gleichstellungsbeauftragten für sexuelle Vielfalt. Diese Forderung wurde vom FELS am Runden Tisch zur Gleichbehandlung und Antidiskriminierung nicht-heterosexueller Menschen durchgesetzt.

Zudem schildert Berude eine wichtige Errungenschaft des Forums: Die Anbringung einer Gedenktafel an der Außenwand des Panoptikums, die an die Verfolgung der Homosexuellen erinnert. In den 1920er Jahren feierten dort im damaligen Tanzlokal „Essener Eldorado“ am Gerlingplatz 4 homosexuelle Menschen. Im März 1933 wurde dieses Lokal von den Nazis geschlossen.

Berude freut sich über die Fortschritte, die die Queere Community und große Teile der Gesellschaft über die letzten dreißig Jahre gemacht haben. „Aber eine gesellschaftliche Minderheit muss heute und wird besonders in den kommenden Jahren durch die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen sehr wachsam bleiben. Minderheiten können schnell alle Errungenschaften, die mühsam erkämpft wurden, als neue Feindbilder auch wieder verlieren. Gerade deshalb lohnt es sich immer, einen Blick in die Vergangenheit und in den Zustand der aktuellen Welt zu wagen, um den Einsatz für Toleranz und Respekt niemals aufzugeben.“


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