Stadtflucht: Wieso es die LGBTQIA+ Community vom Land in die Stadt zieht

Autorin: Helena Wagner | Symbolbild: Helena Wagner | Dieser Artikel wurde im August 2021 erstveröffentlicht.

Studierende müssen aufgrund ihres Studiums oft von der Heimat auf dem Land in die (Groß-)Stadt ziehen. Für Personen der LGBTQIA+ Community schwingt bei dem Umzug oft nicht nur die Hoffnung auf das Traumstudium mit, sondern vor allem der Wunsch nach Akzeptanz und einem offenen queeren Leben. Alper hat der ak[due]ll erzählt, ob sich seine Wünsche und Erwartungen nach dem Umzug erfüllt haben.

Alper Bayram ist schwul, 20 Jahre alt und wohnt seit anderthalb Jahren in Essen. Zuvor lebte er bei seinen Eltern in einem Dorf, etwa anderthalb Fahrstunden von Essen entfernt. Den Umzug in die Ruhrmetropole begründet Alper bei seinen Eltern in erster Linie mit der Möglichkeit des Studiums, der eigentliche Intention war jedoch eine andere. „Der erste Grund für meinen Auszug war es, endlich ein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen und Regeln zu führen. Endlich Bars oder Clubs besuchen, etwas erleben, ein Neubeginn“, schwärmt Alper von seinen Träumen. 

In Gedanken malte er sich für seinen Neustart aus, wie er sich endlich nicht mehr verstecken muss, gerade in Bezug auf seine Sexualität: „Ich erinnere mich noch, wie ich mir vor meiner Uni-Zeit gedacht habe, dass ich mich nun als mein wahres und authentisches Ich vorstellen kann.“ Dieser Gedanke hat ihn unglaublich beflügelt. Auffälligere Outfits, Schmuck, Make-Up: Alper fühlt sich wohl in seiner Haut, hat den Mut, sein authentisches Ich nach außen zu tragen.

„Sie haben mich gebeten, auf den richtigen Weg zurückzukommen.“

Dem Leben bei seinen Eltern kann Alper trotzdem nicht entkommen: „Ich war vorher sehr eingeschränkt durch meine konservativen Eltern. Durch mein Outing habe ich quasi meine Familie verloren. Meine Eltern und ich haben keinen Kontakt, zu zwei meiner vier Geschwister ist der Kontakt auch ganz abgebrochen“, beschreibt Alper die traurigen Konsequenzen seines Outings. „Sie haben mich gebeten, auf den richtigen Weg zurückzukommen, was auch immer das heißen mag.“

Besuche in der Heimat waren vor seinem Outing immer sehr anstrengend und zermürbend für Alper: „Jedes Mal, wenn ich meine Eltern besucht habe, hatte ich das Gefühl, wieder eine andere Person sein zu müssen. Ich musste darauf achten, nicht ‚zu schwul‘ zu sein, damit es meine Eltern nicht checken.“ Der Druck, der dadurch auf ihm lastete, habe ihm auf Dauer nicht gutgetan.

In der Stadt hingegen geht er mit seiner Sexualität offen um: „Ich wollte diese riesige Last von meinen Schultern haben und endlich ein Leben ohne Geheimnisse leben. Meine Freunde hier akzeptieren mich genau so, wie ich bin, und das gibt mir unheimlich viel.“ Der Umzug in die Stadt hat Alpers Selbstakzeptanz ein großes Stück nach vorne gebracht: „Ich fühle ich mich sehr erleichtert und frei. Ich habe keine Eltern, die mich kontrollieren oder mir Grenzen aufzeigen. Ich fühle mich sicherer und verstandener, da ich mich nur noch mit Menschen umgebe, die mich so akzeptieren wie ich bin.“

Vor Queerfeindlichkeit kann man nicht flüchten

Doch offenes Queer-Sein ohne Diskriminierung zu erleben, ist auch in der Großstadt nicht möglich. Kilian Haoues ist 21 Jahre alt und von einem Dorf an der Mosel nach Berlin gezogen. Er hat persische Wurzeln. Seine Familie hat auf sein Outing positiv reagiert. In Berlin erhoffte er sich, ähnlich wie Alper, sein queeres Leben offener leben zu können. Doch auch in Berlin ist man vor Angriffen auf der Straße nicht geschützt: “Das geht von dummen Kommentaren bis zu angedrohter Gewalt auf offener Straße. Ein Gefühl der Sicherheit habe ich nicht”, berichtet Kilian.

Dieses unwohle Gefühl kennt Alper: „Manchmal fühle ich mich nicht wohl, wenn mich Leute in der Stadt anstarren, weil sie erkennen, dass ich schwul bin. Außerdem muss ich auch hier mit Homophobie umgehen und das macht es leider etwas schwieriger, sich selbst vollkommen zu akzeptieren“, beschreibt Alper die Auswirkungen. Im Großen und Ganzen ist Alper trotzdem froh, den Schritt vom Land in die Stadt gewagt zu haben: „Es ist genauso, wie ich es erwartet hatte. Viele neue, interessante und offene Menschen. Man ist quasi nur noch ein kleiner Teil einer großen Masse, was natürlich die Anonymität des Einzelnen fördert. Das kommt mir manchmal schon gelegen.“ Er ist zurecht stolz auf seine Entwicklung in den anderthalb Jahren, die er in Essen lebt: „Ich habe gelernt, dass ich alleine sehr gut klarkomme und die Meinungen von anderen Menschen nichts an meiner Realität verändern.“


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