Wie viel Selbstbestimmung steckt im Selbstbestimmungsgesetz?

Artikel: Selome Abdulaziz | Trans Aktivist*innen kritisieren das Selbstbestimmungsgesetz. [Illustration: Radunkel]

In unserem monatlichen Schwerpunkt  geht es im Oktober um das Selbstbestimmungsgesetz, das die Bundesregierung im August auf den Weg gebracht hat. Im ersten Schwerpunkt-Artikel (Link) haben wir erklärt, was das Gesetz beinhaltet. Jetzt haben wir mit zwei trans Personen darüber gesprochen, wie sie zu dem Selbstbestimmungsgesetz stehen.

Liam* ist 23 Jahre alt und eine weiße, trans maskuline Person. Liam nutzt er/ihn und they/them Pronomen, die in diesem Text abwechselnd genutzt werden. Er studiert aktuell noch an der Ruhr-Universität Bochum, möchte aber bald eine Bibliothekars-Ausbildung beginnen. Passenderweise treffen wir uns in der Bochumer Stadtbücherei für das Interview. Aktuell hat Liam nicht so viel Zeit für trans Aktivismus, wie they gerne hätte, aber er hat sich über Instagram viel theoretisch damit auseinandergesetzt und weitergebildet. Einige Tage später treffe ich Em*, der trans nicht-binär ist und die Pronomen er/ihn nutzt, für ein Interview in seiner Wohnung. Er ist 24 Jahre alt und studiert Psychologie im Master an einer Universität im Ruhrgebiet. Außerdem arbeitet er für das queere Bildungsprojekt SCHLAU.

Schnell wird klar, dass Liam vom Selbstbestimmungsgesetz enttäuscht ist: „Es hätte so viel besser gemacht werden können. Es gab so viele Kritikpunkte, die gar nicht beachtet wurden.“ Als besonders benachteiligt sieht they trans feminine Personen oder Menschen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit oder nur einen begrenzten Aufenthaltsstatus haben. „Wenn selbst privilegierte Menschen wie ich das Gesetz so kritisieren, muss man sich fragen, wie das für mehrfach marginalisierte Leute innerhalb der trans Community ist.“ Auch Em hat eine Reihe an Kritikpunkten, die er sich im Vorfeld aufgeschrieben hat, um keine Details zu vergessen. Beide kritisieren, dass Ausländer:innen ihren Geschlechtseintrag nur ändern dürfen, wenn sie einen unbefristeten Aufenthaltsstatus oder eine Blaue Karte EU (ein Aufenthaltstitel für Hochschulabsolvent:innen) besitzen.

„Selbstbestimmung, aber nur in Grenzen“

Em fasst seine Kritik am Selbstbestimmungsgesetz so zusammen: „Es geht eher darum, cis Menschen davon abzuhalten, das Gesetz zu missbrauchen, als trans Menschen wirklich Selbstbestimmung zu ermöglichen.“ Als Beispiel nennt er das Hausrecht, das es Sportvereinen, Restaurants oder öffentlichen Einrichtungen erlaubt, selbst zu entscheiden, ob sie die Geschlechtsidentität einer Person anerkennen oder nicht. Das trifft laut Em besonders an der wahrgenommenen Bedrohung vor trans femininen Personen. „Die Studienlage belegt, dass wenn Menschen äußern, Angst vor trans Frauen auf Toiletten zu haben, es mehr um transphobe Einstellungen, als um wirkliche Angst geht. Außerdem zeigt sich natürlich in Ländern, wo solche Gesetze schon durchgebracht wurden, dass kein Anstieg in Gewalt an cis Frauen in „Safe Spaces“ zu verzeichnen war“, stellt er klar.

Liam bezeichnet die Tatsache, dass Minderjährige zwischen 14 und 18 das Einverständnis beider Eltern brauchen, um ihren Geschlechtseintrag ändern zu können, als „Selbstbestimmung, aber nur in Grenzen“. Em sieht diesen Aspekt ebenfalls kritisch. „Kinder und Jugendliche sind eine sehr schützenswerte Gruppe und sie brauchen im wichtigen Aspekt der Identität Freiheitsrechte und nicht Einschränkungen“, fordert er. Die einjährige Sperrfrist, bevor eine Person ihren Geschlechtseintrag erneut ändern darf und die Notwendigkeit, die Personenstandsänderung drei Monate vorher ankündigen zu müssen, sieht Liam kritisch: „Das hat nichts mit Selbstbestimmung zu tun, wenn es die ganze Zeit darum geht, überall Misstrauen zu säen.“

Als eins der größten Probleme mit dem Selbstbestimmungsgesetz nennen Liam und Em die Änderungen im Offenbarungsverbot. Dieses besagt, dass frühere Geschlechtseinträge nicht einsehbar sind, um ein Zwangs-Outing zu vermeiden. Es soll jedoch Einschränkungen geben: Daten aller Personen, die ihren Geschlechtseintrag und Vornamen ändern lassen, werden automatisiert an verschiedene Behörden wie den Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt und die Bundespolizei gesendet. Liam findet das sehr problematisch, „gerade für mehrfach marginalisierte Personen, dass da einfach Daten weitergegeben und möglicherweise behalten werden.“ Außerdem findet they es schwierig, dass trans Personen unter den Generalverdacht gestellt werden, kriminell zu sein. Sollte es keine Übereinstimmung in den Datensätzen der Behörden geben, sollen die Daten wieder gelöscht werden. Em findet dennoch: „Das hat für mich einen ganz faden Beigeschmack, die Daten von trans Menschen so zu  erfassen. Sollten diese geleakt werden, könnten die Informationen potentiell sehr gefährlich werden für trans Personen.“

Em führt als weitere Verschlechterung die Änderung im Betreuungsrecht an. Personen, die gesetzlich betreut werden, beispielsweise weil sie psychisch krank, seelisch oder körperlich behindert sind, werden rechtlich mit unter 14-Jährigen gleichgesetzt. Er bemängelt, dass diese Personen nur durch ihre:n Betreuer:in und Zustimmung durch ein Betreuungsgericht ihren Geschlechtseintrag ändern zu dürfen. Zuvor durften betreute Personen das selbst entscheiden. „Es geschieht aus einer sehr ableistischen Position, Menschen diese Entscheidung vorzuenthalten. Ich sehe nicht, welchen Nachteil das für betreute Personen hätte, wenn sie den selbst gewählten Geschlechtseintrag haben“, führt er aus.

Verbesserung zum TSG?

Liam und Em haben, aus unterschiedlichen Gründen, das sogenannte Transsexuellengesetz (TSG) (Anm. d. Red.: heutzutage spricht man von trans oder transgeschlechtlich, da es nicht um eine sexuelle Orientierung, sondern um Geschlechtsidentität geht) bisher nicht genutzt, um ihren Vornamen und den Geschlechtseintrag zu ändern. Liam hatte Hoffnung auf ein von der Regierung versprochenes Selbstbestimmungsgesetz und wollte deshalb den Gesetzentwurf abwarten. Jetzt überlegt er, doch noch das TSG-Verfahren zu durchlaufen. Dafür sind Gutachten von zwei Sachverständigen nötig sowie ein Gerichtstermin, bei dem entschieden wird, ob die Person den Geschlechtseintrag und Vornamen ändern darf. „Die Gutachten sind etwas, auf das ich verzichten möchte, weil die menschenverachtend sind, aber dann habe ich es hinter mir. Das Selbstbestimmungsgesetz soll erst im November 2024 kommen, mit der Dreimonats-Frist könnte ich meinen Geschlechtseintrag vermutlich erst im Februar 2025 ändern.“ Neben der langen Wartezeit möchte they nicht, dass seine Daten weitergegeben werden.

Auch Em findet die Fragen, die im Rahmen des TSG-Verfahrens gestellt werden, menschenverachtend: „Ich möchte nicht beantworten, welche sexuellen Präferenzen ich habe oder super persönliche Fragen beantworten, besonders da die Gutachter:innen weder selbst queer sind noch dafür ausgebildet sind, mit queeren Menschen zu sprechen.“ Ob er das Selbstbestimmungsgesetz nutzen wird, weiß er noch nicht. Ihm fehlt eine nicht-binäre Option. „Divers ist für mich eher mit inter verknüpft und das finde ich auch wichtig.“ Stattdessen wünscht er sich eine Lösung nach dem Vorbild der dgti (Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V.) Ergänzungsausweise, auf denen auch die Pronomen stehen. Diese Ausweise dokumentieren die selbstgewählten personenbezogenen Daten von Menschen, die beispielsweise ihren Geschlechtseintrag noch nicht geändert haben und werden von vielen Behörden und Institutionen akzeptiert.

Ob das Selbstbestimmungsgesetz eine Verbesserung zum TSG darstellt, findet Liam schwierig zu bewerten. Dass die Gutachten und das Gerichtsverfahren abgeschafft werden, findet er gut, aber die vielen Kritikpunkte und besonders die Datenweitergabe wiegen für they schwer. „Ich finde es enttäuschend, wie sehr auf organisierte transfeindliche Gruppen gehört wird, die online Stimmung machen.“ Für Em ist das Selbstbestimmungsgesetz in der Absicht und vielen Formulierungen durchaus eine Verbesserung. „Der Gedanke hinter dem TSG war sehr stark pathologisierend, allein der Name geht gar nicht.“ Er sieht aber auch, dass viele Menschen durch das Selbstbestimmungsgesetz in einer schlechteren Position sind, als sie es vorher waren. „Wir machen es noch schwerer für die wirklich vulnerablen Gruppen und das dürfte so nicht sein“, findet er.

Zukunft für trans Personen in Deutschland

Zum Schluss unserer Gespräche habe ich die beiden gefragt, was es bräuchte, um die Situation von trans Personen in Deutschland zu verbessern. Em fordert einen besseren Diskriminierungsschutz und das Recht darauf, eine Toilette zu benutzen, die der jeweiligen Person entspricht. „Außerdem müssen wir trans Personen als Eltern stärken. Es ist ein Unding, dass sie teilweise ihre Elternschaft nachweisen müssen und nicht automatisch anerkannt werden.“ Er wünscht sich auch eine Anerkennung von Nicht-Binarität durch Krankenkassen, da es derzeit nicht möglich ist, als nicht-binäre Person geschlechtsangleichende medizinische Maßnahmen finanziert zu bekommen. „Ich könnte nicht offen nicht-binär sein und Testosteron oder eine Mastektomie, eine operative Entfernung der Brustdrüse, bekommen oder andere Maßnahmen, die für mich wichtig sind.“ Deshalb muss er seine geplante Mastektomie selbst bezahlen. Schließlich wünscht er sich eine andere Kommunikation der Bundesregierung. Wie Liam findet er, dass die Politik weniger auf transphobe Argumente eingehen sollte. „Wenn ich als trans Person das Gefühl hätte, meine Regierung steht hinter mir, würde es mir besser gehen, als wenn ich das Gefühl hätte, meine Regierung versucht, es transfeindlichen Menschen recht zu machen.“

Liam fordert zuerst eine Entschädigung für die Betroffenen des TSG, was die Ampelkoalition sich als Ziel gesetzt hat. They fordert mehr Schutz und Aufklärung darüber, dass nicht trans Menschen das Problem sind. „Viele Punkte im Selbstbestimmungsgesetz richten sich gegen cis Männer und es sind trans Frauen und transweibliche Personen, die darunter leiden. Er fügt hinzu: „Ich wünsche mir weniger Misstrauen, sondern wirklich die Selbstbestimmung zu bekommen, die wir haben wollen.“ Er nennt ebenfalls das Gesundheitswesen, wo er sich eine bessere Infrastruktur wünscht, um lange Wartezeiten bei geschlechtsangleichenden Maßnahmen zu vermeiden. Außerdem benötigt es seiner Meinung nach mehr Aufklärung im medizinischen Bereich. „Wenn ich wegen irgendetwas zu einem Arzt oder einer Ärztin gehe, wünsche ich mir, dass ich ernst genommen werde und nicht alles auf das Testosteron, das ich nehme, geschoben wird“, schließt they das Gespräch.

* Die Namen der Interview-Partner:innen wurden geändert, um ihre Anonymität zu wahren.


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