Wie queer sind die Streamingdienste? – Netflix

Artikel: Selome Abdulaziz | Netflix schlägt selbst queere Kategorien vor.

Netflix ist neben Amazon Prime der größte Streamingdienst. Auf dem deutschen Markt ist der Streaming Gigant seit September 2014 verfügbar und durch zahlreiche erfolgreiche Eigenproduktionen wie House of Cards oder Stranger Things aus der Popkultur nicht mehr wegzudenken. Wie Netflix in puncto queere Charaktere abschneidet, erfahrt ihr hier.

Achtung: Spoiler!

Schon 2013 beim Launch der ersten eigenen Produktionen setzte Netflix auf Diversität mit der Serie Orange is the New Black (OITNB). In den USA ist Netflix der Streamingdienst mit den meisten LGBT-Charakteren im Vergleich mit HBO, Amazon Prime und Hulu. Dass der Sender auf Diversität achtet, zeigt eine eigens in Auftrag gegebene Studie, die untersuchen soll, wie sehr das Thema in den Produktionen der Firma umgesetzt wird. Selbstkritisch heißt es hier: „Overall, the findings in this section revealed that Netflix features few LGBTQ leads/co leads, main cast, or speaking characters in film or series content. While not significantly different from the wider industry in terms of leads/co leads or main cast, Netflix falls below population figures for this community.”

Dennoch finden sich auf Netflix viele Inhalte mit queeren Charakteren, von denen wir  hier einige vorstellen wollen. Die bereits erwähnte Serie OITNB ist ein absoluter Klassiker unter den LGBTQ+ Serien. Hauptfigur ist Piper Chapman (Taylor Schilling), eine weiße Frau aus der Mittelschicht, die in ihren Zwanzigern Drogen für ihre Freundin Alex Vause (Laura Prepon) schmuggelte. Jahre später muss sie dafür ins Gefängnis, hier spielt der Mittelpunkt der Serie. Die Schöpferin, Jenji Kohan, bezeichnet Pipers Storyline als „trojanisches Pferd“, um Geschichten von Personen zu erzählen, die schwieriger an Produzent:innen zu verkaufen seien. Geschichten von kriminellen Frauen, trans* Frauen, Schwarzen Frauen, Latina Frauen, lesbischen Frauen oder Frauen mit psychischen Erkrankungen. Diese Geschichten machen OITNB zu einer einzigartigen und bewegenden Serie, in der Humor und Tragik nah beieinander liegen.

Queerbeet

Der Streamingdienst bietet queeren Content in nahezu allen Genres. Die Wachowski Geschwister (Matrix) zeigen mit dem Netflix Original Sense8, dass auch Science-Fiction queer sein kann. In der Serie geht es um acht Menschen, die geistig und emotional miteinander verbunden sind und miteinander kommunizieren können, obwohl sie an unterschiedlichen Orten in der Welt leben. Dadurch spielt die Serie an verschiedenen Schauplätzen wie Mumbai, Nairobi, Chicago und Berlin. Queere Charaktere sind unter anderem die trans* Frau und Hackerin Nomi Marks (Jamie Clayton) und der schwule Schauspieler Lito Rodriguez (Miguel Ángel Silvestre). Ihr solltet euch Sense8 nicht entgehen lassen, denn die Serie ist vielschichtig, skurril und sinnlich zugleich.

Auch im Genre Psychothriller bietet Netflix Serien mit LGBTQ+ Charakteren. Ratched ist dank der Kombination aus Schöpfer und Regisseur Ryan Murphy (Glee, Pose) und Hauptdarstellerin Sarah Paulson vielversprechend, die schon in der Serie American Horror Story erfolgreich zusammenarbeiteten und beide homosexuell sind. Die Serie erzählt die Vorgeschichte der fiktiven Figur Mildred Ratched aus dem Literaturklassiker Einer flog über das Kuckucksnest von Ken Kesey. Die von Paulson verkörperte Krankenschwester in einer psychiatrischen Anstalt hat eine Frau als Love Interest. Empfehlenswert ist die Serie wegen des ungewöhnlichen Mix aus Thriller, Parodie und Neo-Noir.

EastSiders ist zwar kein Thriller, aber ungewöhnlich düster für eine Comedy. Die Serie startete ursprünglich als Webserie auf YouTube und hat einen ganz eigenen Vibe. Im Mittelpunkt steht ein schwules Paar, bestehend aus dem Fotografen Cal (Kit Williamson) und dem Autoren Thom (Van Hansis), die mit Thoms Untreue umgehen müssen. Auch ihre Freund:innen und Familie sind zentraler Bestandteil der Serie. Die Show hat interessante und vielseitige Charaktere, darunter Cals exzentrische beste Freundin Kathy (Constance Wu) und die Drag Queen Deborah/Gomorrah Ray (William Belli), die ein seltenes Beispiel für eine Drag Queen mit tiefgründiger Storyline ist, die nicht nur als Requisite fungiert. Obwohl die Serie in Los Angeles spielt, sind die Charaktere fast alle unglücklich, was EastSiders deutlich realistischer macht als die typische Hollywood Comedy. Dazu ein Soundtrack mit Geheimtipps, der einen im Minuten-Takt Shazam zücken lässt.

Young Love

An dieser Serie ist man in den letzten Jahren kaum vorbeigekommen: Sex Education. Das Netflix Original wurde alleine im ersten Monat nach Veröffentlichung von 40 Millionen Zuschauer:innen gesehen. Hauptfigur Otis Milburn (Asa Butterfield) und seine beste Freundin Maeve Wiley (Emma Mackey) gründen eine Praxis für Sextherapie an ihrer Schule, um Mitschüler:innen bei sexuellen Problemen zu helfen und dabei Geld zu verdienen. Dabei wird auf eine ungewöhnlich offene Weise sexuelle Aufklärung thematisiert. Auch queere Liebe kommt nicht zu kurz. Otis‘ bester Freund Eric Effiong (Ncuti Gatwa) ist schwul und Otis‘ erste Freundin Ola ist pansexuell. Sex Education ist originell, quirky und nicht nur etwas für Teenager. Zeitlose Ästhetik und ein frischer Indie-Soundtrack der Musikerin Ezra Furman runden das Ganze ab.

Apropos Teenies: Die brandneue Coming-of-Age Serie Heartstopper wird euer Herz erobern. Die im April 2022 erschienene Serie erzählt die Geschichte von Charlie (Joe Locke), einem schwulen Jugendlichen, der sich in den beliebten Rugby-Spieler Nick (Kit Connor) verliebt. Das herzerwärmende Drama besticht mit authentischen Charakteren, liebevollen Freundschaften und dem verwirrenden Mix aus Gefühlen, dieer die erste Liebe und das Coming-Out begleitent. Auch Atypical gehört zu den Serien, die sich die meisten queeren Millennials wohl in ihrer Jugend gewünscht hätten. Sie konzentriert sich auf den 18-jährigen Sam (Keir Gilchrist), der auf dem autistischen Spektrum ist, und seine Familie. Eine wichtige Rolle spielt Casey (Brigette Lundy-Paine), Sams jüngere Schwester, die im Laufe der Serie realisiert, dass sie bisexuell ist. Die sich in Staffel 2 langsam anbahnende Romanze zwischen ihr und Izzie, einer Mitschülerin, gehört zu den realistischsten Darstellungen junger queerer Liebe.

Filme

Serien sind zwar vor allem Netflix‘ Steckenpferd, aber auch Fans queerer Filme kommen nicht zu kurz. Neben eher unbekannten Indie-Filmen gibt es einige Hollywood-Hochkaräter wie Brokeback Mountain oder Call Me by Your Name. Auch Moonlight fällt unter diese Kategorie. Der Film gewann unter anderem einen Golden Globe und den Oscar als Bester Film. Er zeigt das Leben der Hauptfigur Chiron (Alex Hibbert/Ashton Sanders/Trevante Rhodes) in drei Phasen: Kindheit, Jugend und sein frühes Erwachsenenleben. Das bewegende Drama ist der erste LGBTQ+ Film mit einem komplett schwarzem Cast und thematisiert schwarze Männlichkeit in der Interaktion mit Sexualität.  

Ein weniger bekannter, aber nicht weniger grandioser Film ist das deutsche Werk Vier Minuten. Die preußisch strenge 80-jährige Traude Krüger (Monica Bleibtreu) gibt seit Jahrzehnten Klavierunterricht in einem Frauengefängnis, wo sie auf die 20-jährige, wegen Mordes verurteilte Jenny (Hannah Herzsprung) trifft, die selbstzerstörerisch und verschlossen auftritt. Wegen ihres musikalischen Talents fördert Traude Jenny und bringt sie dazu, sich beim Wettbewerb Jugend musiziert zu bewerben. Beide haben eine schwierige Lebensgeschichte: Jenny wurde in ihrer Jugend missbraucht und Traude verlor ihre große Liebe Hannah (Kathrin Kestler) im Zweiten Weltkrieg, da sie als Kommunistin hingerichtet wurde. Die letzten Minuten des Films bieten eins der fulminantesten und emotionalsten Film-Enden, das einen berührt zurücklässt.

Der Dokumentarfilm Disclosure: Trans Lives on Screen zeigt die Darstellung von trans* Personen in Hollywood. Dabei wurde ein chronologischer Aufbau gewählt, der aufgreift, wie schädlich die Darstellungen von trans* Menschen im amerikanischen Kino und Fernsehen waren. Bekannte trans* Personen wie die Schauspielerin Laverne Cox oder die Filmemacherin Lilly Wachowski besprechen die ausgewählten Szenen.

Fazit: Was LGBTQ+ Repräsentation angeht, macht Netflix vieles richtig. Es kommen lesbische, schwule, bi- und pansexuelle Charaktere und queere People of Colour vor. Mal als Hauptfigur, mal als Nebencharakter, in Comedy Serien und in Action Filmen. Die Auswahl ist riesig, hier wurde nur ein Bruchteil erwähnt. Auch die Suche nach queeren Inhalten ist einfach: über die Suchfunktion kann man Schlagworte wie „queer”, „lesbian”  oder „gay” eingeben. Außerdem schlägt Netflix Kategorien wie „LGBTQ-Filme” vor. Auch in den Reality-Serien auf Netflix kommen queere Menschen vor, allen voran in der Make-Over-Show Queer Eye oder im Drag Queen Wettbewerb RuPaul’s Drag Race. Allerdings ist die Repräsentation von trans* und nicht-binären Charakteren noch ausbaufähig.


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