Sexismus in der Medizin: „Es ist eine Machtdemonstration.“

Text: Freya Pauluschke | Illustration: Jacqui Mundri

Der Anteil weiblicher Beschäftigter in der Medizin steigt stetig. Trotzdem sind Frauen in Führungspositionen sowie bei der Vergabe von Preisen noch nicht mit Männern gleichgestellt. Wir haben mit Dr. Christine Kurmeyer, der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten der Charité Berlin, über die Hürden für Frauen im Gesundheitsversorgungssystem gesprochen.

Das Team der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten der Charité in Berlin setzt sich unter anderem für die Aufklärung und Sensibilisierung von Grenzverletzungen am Arbeitsplatz ein. Mit der WPP-Studie (Watch Protect Prevent) hat das Universitätsklinikum erstmals in Deutschland das Thema Grenzüberschreitungen und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in der Medizin untersucht. Im Vorfeld der Studie veröffentlichte das Team bereits im Jahr 2014 die Broschüre „Grenzüberschreitungen, Grenzverletzungen, Abgrenzungen“ mit Informationen zu sexueller Belästigung und Diskriminierung im Kontext medizinischer und pflegerischer Handlungen sowie entsprechenden Präventionsmöglichkeiten.

Unsicherheit im Umgang mit Belästigung

Eine Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeigt, dass starke Wissenslücken bezüglich des Themas vorhanden sind. 81 Prozent der Befragten wissen nicht, dass Arbeitgeber:innen verpflichtet sind, Arbeitnehmer:innen aktiv vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu schützen. 60 Prozent der Teilnehmenden konnten keine Maßnahmen nennen, die zum Schutz vor sexueller Belästigung unternommen werden. Oft ist keine Ansprechperson zu dem Thema im Betrieb bekannt. Generell scheint die Einstufung eines grenzverletzenden Vorfalls schwierig zu sein: „Es kommt zu zweideutigen Handlungen oder Worten, die es den Betroffenen sehr schwer machen, das zu melden. Es ist sehr kompliziert, das überhaupt richtig wahrzunehmen“, sagt Dr. Christine Kurmeyer, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Charité Berlin. Der Begriff der sexuellen Belästigung sei im allgemeinen Gebrauch zu eng gefasst auf eindeutige körperliche Übergriffe. Das Team der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten ist deshalb zum Terminus „Grenzverletzungen“ übergegangen. Über 70 Prozent der Frauen seien von Grenzverletzungen betroffen, aber auch 60 Prozent der Männer: „Dies bestätigt unsere Hypothese, dass sexuelle Belästigung viel mehr bedeutet, als das, was gemeinhin in den Köpfen auftaucht, wenn man den Begriff in den Raum stellt.“

Dr. Kurmeyer setzt sich für Frauen und Gleichstellung in der Medizin ein. [Foto: privat]

Dr. Kurmeyer berichtet, dass Betroffene oft nicht wissen, wie sie Situationen einordnen können und wohin sie sich wenden sollen. Im Beratungsgespräch wird versucht zu klären, was genau vorgefallen ist. „Dabei stellt sich heraus, dass die Grenzverletzungen – zum Glück finden die meisten verbal statt – so formuliert werden, dass es unklar ist. Ist es tatsächlich so gemeint gewesen? Habe ich etwas falsch interpretiert?“ Dabei sei wichtig zu beachten, dass es bei den Grenzüberschreitungen nicht um Sex ginge, sondern um Macht. „Es ist eine Machtdemonstration. Deswegen bin ich mit dem Terminus der sexuellen Belästigung mittlerweile etwas unglücklich.“ Zu Beginn der Beratung sei der Terminus dennoch hilfreich, damit Betroffenen klar wird, in welche Richtung sich ein Beratungsgespräch entwickelt. Der Beratungs- und Beschwerdeablauf ist transparent auf der Website der Charité zu finden, damit Betroffene im Vorhinein wissen, was passieren kann. Das soll ihnen die Angst nehmen, sich zu melden. Trotzdem hat die beschwerdeführende Person immer die Macht über den Ablauf und das Gespräch wird nur so weit geführt, wie sie:er es möchte. „In Situationen der Grenzverletzung entsteht in Betroffenen ein Gefühl der Ohnmacht, eine Denklähmung. Indem wir Betroffenen die Hoheit über das Geschehen wieder zurückgeben kommen sie wieder ins Handeln.“

Ständiges Aufmerksammachen und Sensibilisieren

Permanentes Aufmerksammachen und Sensibilisieren für das Thema der Grenzverletzungen im medizinischen Bereich ist laut Dr. Kurmeyer von hoher Bedeutung, da sich in der Hektik des Alltags und der Zunahme der Arbeitsverdichtung oft eine gewisse Nachlässigkeit einschleiche: „Jeden Tag werden in unseren Kliniken hunderttausendfach Grenzen überschritten, mit jeder Spritze, mit jeder Anamnese. Wir müssen aufpassen, dass wir in diesem hochsensiblen Bereich der körperlichen Grenzüberschreitungen keine persönlichen Grenzen verletzen“, erklärt Dr. Kurmeyer. Die Expertin hält unter anderem Kurzinterventionen in OPs in Form von Workshops ab. Teilnehmende sind OP-Teams mit allen beteiligten Professionen: die Operierenden, das Pflegeteam sowie die anästhesistischen Fachkräfte. Alle Workshop-Teilnehmenden werden aufgefordert, Motivationskarten zu beschriften mit Antworten auf folgende Fragen: „Was läuft rund im Team?“, „Was läuft eckig?“ oder „Was möchte ich im OP nie wieder hören?“ Dr. Kurmeyer sammelt die Karten ein und liest die Antworten vor. Durch die Arbeitsverdichtung im OP gibt es kaum Zeit, um über den Umgang miteinander zu sprechen, doch dieser 30-Minuten-Workshop bietet die Möglichkeit dazu.

Um bei den vielfältigen Hintergründen für Sexismus in der Medizin einen Ansatz zu finden, führt die Charité Unconscious-Bias-Workshops durch, in denen die Mitarbeitenden für die Wirkmächtigkeit ihrer unbewussten Denkmuster sensibilisiert werden sollen. Stereotypische Sichtweisen sollen aufgedeckt werden, um ein faires Beurteilungssystem einführen zu können. Neben dem Gender Bias wird auch auf Diskriminierungen im Bereich der Sprachkompetenz und ethnischen Herkunft von Mitarbeitenden aufmerksam gemacht.

Laut dem Ärzteblatt sind zwei Drittel der Studienanfänger:innen im Fach Medizin weiblich, doch nur 11 Prozent der leitenden Krankenhausärzt:innen. Im Jahr 2015 zählte das Statistische Bundesamt insgesamt 33 Prozent Oberärztinnen an allen Krankenhäusern. Lediglich zehn Prozent in Führungspositionen an Unikliniken, Lehrstühlen oder Instituten sind Frauen. Dr. Kurmeyer erklärt: „Egal ob Frauen Kinder kriegen können, wollen oder nicht: Die Möglichkeit, dass eine Frau schwanger wird und damit ausfällt, lässt die Auswahlentscheidung eher auf das männliche Geschlecht fallen. Leider steckt dieses Bild von Frauen in den Entscheider:innenköpfen.“

„Women for Women“

Der Krieg in Syrien 2015 bot Anlass für das Projekt „Charité für geflüchtete Frauen: Women for Women“. Das Frauen- und Gleichstellungsteam hat geflüchtete Frauen eingeladen, um nach deren Wohlbefinden und Problemen zu fragen. Ein Hauptproblem sei, so sagten die geflüchteten Frauen, das deutsche Gesundheitssystem zu erreichen, geschweige denn zu verstehen. Mit einer Gynäkologin und Übersetzerinnen finden seitdem in den Gemeinschaftsunterkünften Gesprächskreise mit den Frauen statt, um Scham zu nehmen und Vertrauen aufzubauen. Dort wird Menstruation, Schwangerschaft oder Verhütung besprochen, aber auch der Umgang mit Stresssituationen und erste Hilfe bei Kindern sind Themen, die sich die Frauen gewünscht haben.

Mit dem Satz „Wir sind alle Frauen“ und der direkten Frage, wie es den Frauen geht, wird der Gesprächskreis eingeleitet. Dr. Kurmeyer bemerkt: „Für die Frauen war das oftmals seit Jahren der erste Ansatz, dass sich überhaupt jemand für sie interessiert.“ Allerdings äußerten die geflüchteten Frauen auch, dass es sinnvoll sei, solche Gespräche mit Männern zu führen, damit diese ihre Vorstellungen von Frauen, Männern, Partnerschaft und Familie ebenfalls reflektieren können. Das Team der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten engagierte daraufhin den Professor für Urologie der Charité. Er bietet Gesprächskreise für Männer an und behandelt dabei Themen wie Krebsvorsorge oder Verhütung.

80 Prozent der Geflüchteten des Ukraine-Krieges, die nach Deutschland kamen, waren Frauen. Auch von ihnen wurde ein dringender Bedarf an Informationen über das Gesundheitsversorgungssystem in Berlin geäußert. Das Team der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten arbeitet an dieser Stelle weiter und trägt damit einen kleinen Teil dazu bei, dass die Medizin geschlechtergerechter und besser wird.


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