Sehnsucht und Ahnung – Eine begehbare Musikinstallation

Diese Bühne darf das Publikum betreten und erlebt so die Inszenierung hautnah. [Foto: Jan Pauls]

Am Wochenende vom 26. bis 28.11. führte das Kammerorchester „Ensemble Ruhr“ die Musikinszenierung „Sehnsucht und Ahnung“ im Maschinenhaus Essen auf. Hierfür wurde eine einzigartige, in sechs „Tortenstücke“ unterteilte, runde Bühne geschaffen. Das Publikum kommt so dem Orchester trotz coronakonformer Abstände ungewöhnlich nah. Das Ziel ist, auf die Situation von Kulturschaffenden in der Corona-Pandemie aufmerksam zu machen.

Eine Reportage von Selome Abdulaziz

Geschützt vor dem wütenden Wind und Regen stehe ich mit den anderen Zuschauer:innen am Freitagabend unter einem Pavillon direkt vor dem Maschinenhaus Essen auf dem Gelände der Zeche Carl und warte. Wir warten, bis alle 18 Zuschauer:innen zur Premiere von „Sehnsucht und Ahnung“ erscheinen und uns ein Mitarbeiter abholt und zum Haupteingang führt. Ich fühle mich wie ein Teil einer Reisegruppe. Nachdem wir die Treppen hinaufgestiegen sind, klopft der Mitarbeiter an dem Eingangstor. Nach kurzem Warten öffnet sich das breite Tor und die ersten eindrucksvollen Töne von Franz Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ in der von Gustav Mahler bearbeiteten Version für Streichorchester eröffnen die Inszenierung. 

Auf der rechten Seite des riesigen Saals mit hohen Decken befinden sich aufgereihte Stühle mit etwa zwei Metern Abstand. Ein grauhaariger Mann im Kittel gibt uns die Anweisung, uns zu setzen. Verkörpert wird er von dem Schauspieler Klaus Brantzen. Die Stühle sind so ausgerichtet, dass wir auf eine Backsteinwand schauen. Neben uns, in der Mitte des Raumes, ist die Bühnenkonstruktion, die das Herzstück der Musikinszenierung ausmacht. Sie ist aus Holz gebaut und von Molton umspannt, wie die Szenen- und Kostümbildnerin Kristina Schmidt in einem Video (https://www.youtube.com/watch?v=XQHNIy084bo&t=117s) selbst erzählt. Aus der umhüllten Bühne hören wir das Ensemble Ruhr, ein 2012 gegründetes Kammerorchester aus dem Ruhrgebiet, ohne dass wir die Musiker:innen sehen können. Ich kann nicht einschätzen, wie lange wir dem intensiven Stück lauschen und auf die Mauer starren oder wann der nächste Teil der Inszenierung beginnen würde.

Im Herzen der Musik

Als die Musik schließlich verstummt und wir von dem Mann im Kittel angewiesen werden, Dreiergruppen zu bilden, steigt in mir ein Gefühl zwischen Vorfreude und Nervosität auf. Was wird uns hinter den dicken Vorhängen der Bühne erwarten? Meine Gruppe besteht aus dem Fotografen für die Premiere und einer Frau – beide kenne ich nicht. Doch für den Rest der Aufführung sind wir Teil einer Gemeinschaft. Wir nähern uns der Bühne. Wie eine Torte ist die kreisrunde Konstruktion in sechs Räume unterteilt. Das Publikum, in sechs Dreiergruppen aufgeteilt, steht nun vor dem Eingang der verschiedenen Tortenstücke, und wird eingeladen, den jeweiligen Raum zu betreten. 

Vor mir gehen der Fotograf und die Zuschauerin hinein und halten mir den schweren, dunklen Vorhang auf. Der Raum ist komplett mit weißem Schaumstoff ausgekleidet und die Helligkeit bildet einen Kontrast zum spärlich beleuchteten Saal, in dem sich die Bühne befindet. Auf dem Boden sind drei Kreuze aus Tape geklebt, auf die wir uns stellen sollen, um den Abstand einzuhalten. Am Ende des kleinen, spitz zulaufenden Raumes stehen uns ein Kontrabassist und die Violinistin Antje Weltzer-Pauls, die das Ensemble Ruhr mitgegründet hat, gegenüber. Jeder Raum steht für ein Gefühl, das die Mitglieder des Ensembles angesichts der Corona-Pandemie umtrieb. So ist beispielsweise der erste Raum, in den ich mich begab, laut Weltzer-Pauls der „Verlust-Raum“. Alle Räume sind völlig unterschiedlich gestaltet und die Musiker:innen spielen gleichzeitig unterschiedliche Teile des Arrangements, die zusammen ein Gesamtwerk ergeben. Die Musik und die Inszenierung bleiben bei jedem Durchgang gleich, allerdings wechseln wir immer wieder den Raum und durchlaufen so das „Gefühlskarussell“. Spannend finde ich den Gedanken, dass je nachdem, welchen Raum man zuerst betritt, sich ein anderes Bild der gesamten Szene ergibt.

Nähe und Distanz

Nach der Inszenierung spreche ich mit der Violinistin Antje Weltzer-Pauls. Die Ursprungsidee zu diesem ungewöhnlichen Konzept stamme von ihrer Kollegin Anna Betzl-Reitmeier, Cellistin und Gründungsmitglied des Ensemble Ruhr. Weltzer-Pauls erzählt: „Wir waren in einer Schockstarre, es war alles dicht. Wir hatten keine Ahnung, wie es weitergeht.“ Die Idee zu “Sehnsucht und Ahnung” sei nach dem ersten Lockdown zu Beginn der Pandemie gekommen. Die Räume seien auf Basis der Gefühle der Musiker:innen angesichts der ungewissen Lage entstanden. „Das ist eben dieses Karussell von unterschiedlichen Gefühlszuständen, das man durchläuft. Daraus ist diese Gesamtinszenierung entstanden. “, beschreibt Weltzer-Pauls. So ist beispielsweise der erste Raum, in den ich mich begab, laut Weltzer-Pauls der „Verlust-Raum“. Das Spiel mit Nähe und Distanz ist ihr zufolge ein zentraler Punkt: „Die erste Idee war es, diese Tortenbühne mit den abgetrennten Räumen zu formen und dadurch diese Distanz und gleichzeitig Nähe bildhaft darzustellen.“

Weltzer-Pauls beschreibt die Inszenierung als Herausforderung für die Musiker:innen. „Man fühlt sich da fast nackt. So nah kommt man seinem Publikum nie, nicht mal im Wohnzimmerkonzert“, sagt sie lachend. Sie bezeichnet die Situation als extrem und irritierend. „Einerseits gibt es mehr Spannung, aber es ist dann doch sehr nah. Will ich das eigentlich? Vermutlich so, wie es dir als Zuschauerin gegangen ist“, sagt sie zu mir gerichtet. Tatsächlich war es auch für mich ungewohnt, den Streicher:innen so nah zu sein und die intime Gefühlswelt zu betreten.

Das Ensemble hofft, mit “Sehnsucht und Ahnung” auch an anderen Orten aufzutreten. „Wir würden gerne damit auf Tour gehen, weil das Thema direkt auf die ganze Gesellschaft übertragen werden kann. Da kann sich jeder wiederfinden“, so Weltzer-Pauls.


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