Schwerpunkt: Polizeigewalt in Deutschland 

In unserem März-Schwerpunkt widmen wir uns dem Thema Polizeigewalt. Im ersten Text haben wir den Fall von Mouhamed Dramé behandelt. Nun wollen wir einen Überblick über die Situation in Deutschland geben. Was ist Polizeigewalt? Wie sehen die Fallzahlen aus? Und hat die Polizei ein Rassismusproblem?

Artikel: Selome Abdulaziz | Illustration: Ronja Silvana

Von 2018 bis 2023 führten Laila Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau, Luise Klaus und Tobias Singelnstein das Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen: Viktimisierungsprozesse, Anzeigeverhalten, Dunkelfeldstruktur“ (KviAPol) durch. Zunächst war es an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) am Lehrstuhl für Kriminologie angesiedelt, wechselte aber 2022 an die Goethe-Universität Frankfurt. Dabei wurden 3300 Betroffene von Polizeigewalt befragt und 60 qualitative Interviews mit Akteur:innen aus Polizei, Justiz und Opferberatungsstellen geführt.

Die Polizei ist durch die Landespolizeigesetze dazu ermächtigt, Gewalt anzuwenden. Um den Unterschied zur legitimen und legalen Anwendung von Gewalt durch die Polizei deutlich zu machen, sprechen die Autor:innen der Studie von übermäßiger Polizeigewalt. Demzufolge ist Gewalt dann übermäßig, wenn aus der Perspektive einer der beteiligten Personen Grenzen des Akzeptablen überschritten wurden. 

Laila Abdul-Rahman ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Professur für Kriminologie an der Universität Frankfurt. Bei der KviAPol-Studie bemerkte sie: „Obwohl wir die Zahlen bereits kannten, war es eindrücklich zu sehen, wie schwer es ist, bei solchen Erfahrungen gegen Polizeibeamt:innen vorzugehen.” Bei Ermittlungsverfahren zu rechtswidriger polizeilicher Gewalt wird nur in zwei Prozent der Fälle Anklage erhoben. Sie berichtet, dass viele Anwält:innen davon abraten, Anzeige zu erstatten, da die Erfolgsaussichten so gering seien. „Es ist für Betroffene ein weiterer Schlag, wenn sie rechtlich nicht dagegen vorgehen können.”

Ein Problem sei die mangelnde Beweislage. Meistens gebe es keine Videos und es stünde Aussage gegen Aussage. „Polizist:innen sagen außerdem selten gegen ihre Kolleg:innen aus”, erklärt Abdul-Rahman. Ein Drittel der befragten Opfer gab hingegen an, selbst angezeigt worden zu sein, meist wegen Widerstand gegen Beamte. Sie kritisiert zudem, dass Staatsanwaltschaften Polizeiberichte häufig als objektiv statt als Wahrnehmung der Polizei sehen.

Rassismus in der Polizei

Für Abdul-Rahman müssen die Themen übermäßige Polizeigewalt und Rassismus in der Polizei zusammengedacht werden. „Im Rahmen der Forschung kam das Thema Rassismus immer wieder auf. Neben Betroffenen haben auch Polizeibeamt:innen und Mitarbeiter:innen der Justiz, mit denen wir Interviews geführt haben, das häufig thematisiert.” Sie betont allerdings, dass es weitere Dimensionen gebe, die eine Rolle spielten. Insgesamt sei das Risiko, Opfer von Polizeigewalt zu werden, für marginalisierte Personengruppen höher. Dazu zählt sie beispielsweise die Faktoren Diskriminierung aufgrund von Geschlecht oder Klassismus.

2021 startete das Projekt „Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten” (MEGAVO) an der Deutschen Hochschule der Polizei. Im April 2023 wurden erste Zwischenberichte veröffentlicht. Die Studie umfasst eine teilnehmende Beobachtung sowie eine standardisierte Online-Befragung. Es nahmen Mitarbeitende aller Landespolizeien, bis auf Hamburg und Baden-Württemberg, sowie des Bundeskriminalamts und der Bundespolizei teil. Die Online-Befragung ergab, dass Antisemitismus in der Polizei wenig verbreitet ist. Ablehnung gegenüber Sinti und Roma (17 Prozent Zustimmung) und antimuslimischer Rassismus sind stärker verbreitet. So stimmten 18 Prozent der Befragten Überfremdungsgefühlen durch Muslime zu und knapp die Hälfte fand nicht, dass die muslimische Kultur nach Deutschland passt.

Um Rassismus in der Polizei entgegenzuwirken, muss man Abdul-Rahman zufolge in der Aus- und Weiterbildung ansetzen. Sie betont aber auch, dass Rassismus kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem sei. „Wenn wir uns beispielsweise Racial Profiling angucken, also an bestimmten Orten anlasslos zu kontrollieren, ist das ein Einfallstor für Diskriminierung.” Es sei Aufgabe für die Politik und Führungskräfte der Polizei, zu analysieren, wie Grundlagen und Strukturen verändert werden können. „Wir haben das Problem, dass der oder die einzelne Beamt:in sich gar nicht rassistisch verhalten wollen, aber es passiert, weil die Gesetze und die politischen Vorgaben nicht ausreichend diskriminierungssensibel sind”, berichtet sie. 

Die Autor:innen der MEGAVO-Studie räumen allerdings ein, dass es im Vergleich zur Mitte-Studie von 2020/21, die rechtsextreme Einstellungen innerhalb der deutschen Gesellschaft untersucht, wenig Unterschiede zur restlichen Bevölkerung gibt. „Menschenfeindliche Positionen lassen sich sowohl in der Gesamtbevölkerung als auch in der Polizei feststellen“, heißt es hier. Allerdings sind Polizist:innen aufgrund ihrer Machtposition eine Gruppe, an die wir andere Standards haben müssen als an andere Bürger:innen. Auch Abdul-Rahmen betont: „Die Polizei ist in einer besonderen Verantwortung, da sie staatliche Gewalt ausübt. Auch wenn in der Gesellschaft Rassismus verbreitet ist, kann das keine Ausrede dafür sein, dass es bei der Polizei auch so ist.”

Was tun als betroffene Person?

Neben der Möglichkeit, direkt bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft Anzeige zu erstatten, rät Abdul-Rahman Betroffenen von (rassistischer) Polizeigewalt, sich an Beratungsstellen zu wenden. „In vielen Großstädten gibt es Initiativen, wie die Kampagne für Opfer rechtswidriger Polizeigewalt (KOP) in Berlin. Die haben einen Rechtshilfefond und unterstützen bei juristischen Verfahren.” Sie räumt ein, dass in kleineren Städten und im ländlichen Raum Beratungsstellen schwächer aufgestellt seien. Man könne sich aber auch an Stellen wenden, die sich allgemein mit rassistischer und rechter Gewalt und Diskriminierung beschäftigen.

In einigen Bundesländern, wie beispielsweise Sachsen oder Niedersachsen, gibt es unabhängige Beschwerdestellen für Kritik an der Polizei. Andere Bundesländer wie Baden-Württemberg oder Bremen verfügen über Landespolizeibeauftragte, die zwischen der Polizei und den Bürger:innen vermitteln sollen. Der Polizeibeauftragte in NRW ist nur für die Polizei zuständig, nicht für Beschwerden der Bürger:innen. Nur in Bayern und im Saarland gibt es keine unabhängige Stelle. Dennoch sieht Abdul-Rahman in diesem Bereich in Deutschland Verbesserungspotential. „Damit die Beschwerdestellen nicht zu einem Feigenblatt verkommen, ist es wichtig, dass die Kompetenzen und die personellen Ressourcen erhöht werden. Wenn sie nur eine Person haben mit ein bis zwei Mitarbeiter:innen, kann das für ein ganzes Bundesland zu viel sein.”

Beschwerden bei der Polizei in NRW gehen direkt an die Polizeibehörden, hier findet ihr eine Liste mit Mailadressen. Bei Victim.Veto finden Personen, die Opfer von unverhältnismäßiger Polizeigewalt wurden, Informationen und bei Bedarf Beratung. Auch KOP listet auf ihrer Website Informationen für Betroffene auf.


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