Rassismuskritik in der Lehre – Interview mit Prof. Dr. Karim Fereidooni

Autorin: Selome Abdulaziz | Prof. Karim Fereidooni setzt sich für Rassismuskritik in der Lehrer:innenbildung ein. [Foto: unsplash]

Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Rassismuskritik. Er ist außerdem in der Politikberatung tätig und berät unter anderem die aktuelle Bundesregierung bei der Erarbeitung einer Strategie gegen Rechtsextremismus. Wir haben mit ihm über Maßnahmen gegen Rassismus gesprochen.

ak[due]ll: Sie verwenden oft den Begriff „Alltagsrassismus“. Was verstehen Sie darunter?

Prof. Dr. Fereidooni: Den Begriff Alltagsrassismus verwende ich, um diesen vom Staatsrassismus abzugrenzen. Staatsrassismus ist eine Form des Rassismus, die 1933 bis 1945 in Deutschland angewendet wurde mit der Etablierung der Nürnberger Rassengesetze, mit der Etablierung der fabrikmäßigen Ermordung von beispielsweise jüdischen Menschen, aber auch von Sinti:zze und Roma:nja und von Widerstandskämpfer:innen. Alltagsrassismus verwende ich, um einen Wandel im Rassismus darzustellen. Natürlich leben wir in einer demokratischen Gesellschaft, aber trotzdem gibt es strukturellen Rassismus, zum Beispiel im Bildungswesen, im Wohnungs- und Arbeitsmarkt oder der Polizei, auch wenn das Grundgesetz existiert und sich unser Staat als antirassistisch versteht. 

ak[due]ll: Sie beraten die Bundesregierung bei der Erarbeitung der Strategie „Gemeinsam für Demokratie und gegen Extremismus – Strategie der Bundesregierung für eine starke, wehrhafte Demokratie und eine offene und vielfältige Gesellschaft“. Nimmt die Bundesregierung die Themen Rassismus und Kampf gegen Rechtsextremismus ernst genug?

Prof. Dr. Fereidooni: Ich glaube, dass die letzte und die jetzige Bundesregierung in Bezug auf Rassismus viel mehr getan hat, beziehungsweise tut, als vorangegangene Regierungen. Beispielsweise wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein Fördertopf für Rassismusforschung ausgeschrieben. Zum ersten Mal in der bundesdeutschen Geschichte konnten sich Rassismusforscher:innen bewerben, um Geld dafür zu erhalten, Rassismusforschung institutionell zu betreiben. Die letzte Bundesregierung legte mithilfe von Wissenschaftler:innen und NGOs einen Maßnahmenkatalog vor. Im Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus sollten eine Milliarde Euro ausgegeben werden. Das sind die guten Seiten. Ich würde aber sagen, nach wie vor ist es nicht genug, was die Bundesregierung tut. Ich glaube, es gibt mittlerweile keinen Erkenntnisdefizit, es gibt ein Umsetzungsdefizit. Beispielsweise haben wir als Unabhängiger Expertenkreis Muslimfeindlichkeit drei Jahre zum Thema antimuslimischer Rassismus geforscht. Wir haben Nancy Faeser, der Bundesinnenministerin, einen breiten Maßnahmenkatalog gegeben. Jetzt muss die Politik reagieren und handeln. Sie muss damit anfangen, Maßnahmen umzusetzen, wenn sie den Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus ehrlich meint.

ak[due]ll: Sie haben vorhin erwähnt, dass Alltagsrassismus unser gesellschaftliches Leben bestimmt. Was kann man Ihrer Meinung nach dagegen tun?

Prof. Dr. Fereidooni: Wir müssen alle anerkennen, dass Rassismus unser Leben strukturiert. Viele Menschen glauben nicht, dass sie als Grünen-Wähler:innen oder Mensch, der bei einer Gewerkschaft aktiv ist, tatsächlich Rassismus reproduzieren. Wir haben mittlerweile gute Studienbefunde, dass unterschiedliche Formen von Rassismus bei bis zu 60 Prozent der Bevölkerung Anklang finden. Zunächst muss anerkannt werden, dass Rassismus in allen Strukturen unserer Gesellschaft wirkmächtig ist, und danach sollten institutionsspezifische Maßnahmen entwickelt werden, um Rassismus zu bekämpfen. In meinem Fall, ich bilde Politik-Lehrkräfte aus, ist es sinnvoll, mit den Studierenden wissenschaftliche Texte über Rassismuskritik zu lesen. Außerdem sollte man die Studierenden dabei begleiten, Unterrichtsmaterialien zu unterschiedlichen rassismusrelevanten Themenfeldern zu entwickeln.

ak[due]ll: Wie bewerten Sie die kürzlichen Erfolge der AfD, wie den ersten AfD-Landrat und einen AfD-Bürgermeister sowie Umfragewerte von rund 20 Prozent in Bezug auf die Hoffnung auf eine antirassistische Gesellschaft?

Prof. Dr. Fereidooni: Wir müssen uns daran gewöhnen, dass die AfD gekommen ist, um zu bleiben. Die AfD wird nicht mehr verschwinden. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass 20 Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft nicht offen sind für antirassistische, rassismuskritische Fortbildungsmaßnahmen, Schulungen und Programme. Diese 20 Prozent wollen rassistisch agieren, sprechen, handeln. Weitere 20 Prozent sind sehr sensibel in Bezug auf Rassismus. Mir geht es bei meiner Tätigkeit um die verbleibenden 60 Prozent, die unsicher sind. Denen Informationen, Angebote und eine rassismuskritische Gegenrede zu geben, damit sie nicht rassistische Dinge internalisieren. Also es gibt eine kleine, aber laute Minderheit, die versucht, Rassismus salonfähig zu machen in unserer Gesellschaft. Dennoch würde ich sagen: Deutschland ist im Jahr 2023 so rassismuskritisch wie noch nie. Diejenigen, die sich gegen Rassismus einsetzen, sind in der Überzahl. Demokratieerziehung und Rassismuskritik muss jede Generation von Neuem erlernen. Deswegen müssen wir uns Tag für Tag für die Freiheitsrechte einsetzen. Die Demokratie gibt es nicht zum Nulltarif. Wir müssen jeden Tag, alle miteinander, demokratische Strukturen etablieren und dafür kämpfen, dass alle Menschen Deutschland als ihre Heimat betrachten können.

Neben seiner Tätigkeit als Professor berät Karim Fereidooni die Bundesregierung bei Fragen der Rassismuskritik. [Foto: Nils vom Lande]

ak[due]ll: Sie waren selbst einige Jahre lang als Lehrer tätig. Wie haben Sie Rassismus an Schulen aus dieser Perspektive wahrgenommen?

Prof. Dr. Fereidooni: Ich habe gesehen, dass es an vielen unterschiedlichen Schulen Rassismus gibt. Ich habe auch gesehen, dass einige Schulen sich aufgemacht haben, Rassismus zu identifizieren und dagegen etwas zu tun, aber an den meisten Schulen habe ich die Lehrkräfte als überfordert erlebt. Die wussten nicht, wie man Rassismus bekämpft, weil sie diesbezüglich nicht ausgebildet und fortgebildet worden sind. Einige Lehrkräfte haben Rassismus intentional reproduziert. Auch Lehrkräfte nutzen Rassismus, um ihren sozialen Alltag zu strukturieren, auch wenn wir ein anderes Bild über Lehrkräfte haben und sie sich selbst anders sehen. Ich stelle aber eine neue Sensibilisierung in Bezug auf Rassismus und Rassismuskritik fest.

ak[due]ll: Im Juli wurde ein Fall bekannt von einer Schule in Brandenburg, wo zwei Lehrer:innen auf Rechtsextremismus aufmerksam gemacht haben und von der Schule gemobbt wurden, vor allem von den Eltern und Teilen des Kollegiums. Was lernen wir daraus?

Prof. Dr. Fereidooni: Das ist eine Bankrotterklärung der Schulleitung, dass Menschen, die sich gegen Rassismus zur Wehr setzen, von Kolleg:innen gemobbt werden. Da sehe ich ein Führungsversagen. Die Schulleitung hat es versäumt, sich hinter die beiden Lehrkräfte zu stellen, die Rassismus anprangern. Das darf es nicht geben. Ich verlange von allen Schulleitungen ein stärkeres Engagement in Bezug auf Rassismuskritik. Das ist ein fatales Signal für diejenigen Lehrkräfte, die sich gegen Rassismus äußern und sich dagegen engagieren. Die Lehre aus der Geschichte ist ja: Verhalte dich passiv, lass die Rassist:innen gewähren, sonst gerätst du selber in die Schusslinie. Rassismus führt zur Zersetzung, zur Spaltung der Gesellschaft. Das darf sich keine Demokratie und keine Schule leisten.

ak[due]ll: Sie waren bisher Juniorprofessor und haben jetzt eine W2-Professur an der RUB. Worauf freuen Sie sich in Ihrer neuen Tätigkeit besonders?

Prof. Dr. Fereidooni: Ich habe keine neue Professur, lediglich die zeitliche Befristung ist aufgehoben worden. Was ich machen will, ist zwei Bücher zu schreiben mit Prof. Dr. Nina Simon, meiner Kollegin aus Leipzig. Einmal die Einführung in Rassismuskritik und die Didaktik der Rassismuskritik. Mir schwebt vor, ein Überblickswerk zu schaffen, was allen Lehramtsstudierenden die Möglichkeit bietet, eine Einführung zu bekommen über die didaktischen Kompetenzen, die man durch die Analyseperspektive der Rassismuskritik erlangt. Es geht darum, überfachliche Kompetenzen zu vermitteln. Das ist das, was mich in den nächsten Jahren beschäftigen wird.

ak[due]ll: Haben Sie das Gefühl, dass die Studierenden, die Sie betreuen, Interesse an Rassismuskritik haben?

Prof. Dr. Fereidooni: Ich glaube, die Studierenden haben ein größeres Interesse als einige meiner Kolleg:innen. Wir müssen darum kämpfen, dass Rassismuskritik als Forschungsdisziplin etabliert wird. Auch viele Professor:innen haben Vorbehalte gegenüber der Analysekompetenz der Rassismuskritik. Wenn ich beispielsweise einen empirischen Vortrag halte zu Rassismuskritik, nicht nur an unserer Uni, auch an anderen Unis deutschlandweit, dann begegnen mir häufig Kolleg:innen, die sagen: „Was willst du uns unterstellen? Wir sind doch keine Nazis.“ Die sind nicht in der Lage, Rassismuskritik als Analyseperspektive wahrzunehmen, weil unterschiedliche Widerstandsformen gegen Rassismuskritik tatsächlich auch bei Professor:innen greifen. Viele glauben, Rassismus gab es in der Zeit von 1933 bis 1945, aber heutzutage doch nicht mehr. Viele glauben daran, weil sie die SPD wählen, können sie nicht rassistisch sein. Viele glauben daran, dass Universitätsangehörige gar nicht rassistisch sein können, sie sind doch gebildet. Es geistert auch bei Professor:innen sehr viel Unsicherheit herum, das macht es so schwierig, eine wissenschaftliche Karriere zum Thema Rassismus aufzubauen. Wenn ich das Thema Digitalisierung als Forschungsschwerpunkt gehabt hätte, wäre meine Karriere glaube ich sanfter verlaufen und ich hätte schneller die Professur bekommen.

ak[due]ll: Was muss sich ändern, damit der Widerstand geringer wird und man auch mit Rassismuskritik an der Uni nicht aneckt?

Prof. Dr. Fereidooni: Mit Rassismuskritik werden sie immer anecken. Ich glaube, wir müssen allen Menschen eine Sache deutlich machen: Welchen Mehrwert hast du, wenn du dich mit dem Thema Rassismuskritik beschäftigst?

ak[due]ll: Welchen Mehrwert hat man denn?

Prof. Dr. Fereidooni: Sie werden Menschen nicht mehr schablonenhaft begegnen. Sie entledigen sich ihrer rassismusrelevanten Fantasien. Sie sehen das Individuum Karim Fereidooni anstatt den sogenannten muslimischen Mann. Sie werden in der Realität ankommen und sie werden dann nicht von ihren rassismusrelevanten Fantasien geleitet im Kontakt mit ihren Mitmenschen. Ihnen werden die Augen geöffnet in Bezug auf Strukturen. Beispielsweise müssen sich alle Professor:innen fragen: Wem trauen wir was zu? Wem trauen wir weniger zu in der Anstellung von wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen? Warum ist es immer noch so, dass viele Professor:innen ausschließlich weiß-deutsche wissenschaftliche Hilfskräfte einstellen? Oder Professor:innen können selbstkritisch ermitteln, welche Texte von welchen Verfasser:innen bei ihnen im Kurs gelesen werden und welche nicht. Wie ist die Positionierung der Menschen, deren Texte gelesen werden? Sind das vornehmlich weiß-deutsche Männer? Es gibt ganz viele unterschiedliche Möglichkeiten, dass Rassismuskritik hilft, ein Stück weit diese rassismusrelevante Sichtweise auf die Welt zu verlernen.

ak[due]ll: Sie wirken sehr optimistisch trotz eigener Rassismuserfahrungen. Einige Menschen mit Migrationshintergrund überlegen, aufgrund der Werte der AfD, auszuwandern. Wie behalten Sie sich Ihren Optimismus bei?

Prof. Dr. Fereidooni: Deutschland ist meine Heimat. Ich kann nirgendwohin auswandern. Deswegen kämpfe ich dafür, dass Deutschland eine plurale Demokratie bleibt.


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