Europa als Kriegs- oder Friedenskontinent?

Artikel: Nediem Arem | EU-Parlament Straßburg [Foto: Nediem Arem] 

Europa steht vor wichtigen Wahlen. Am 09. Juni wählen rund 440 Millionen Europäer:innen ein neues Parlament – und während derzeit viel über einen möglichen Rechtsruck Europas berichtet wird, wollen wir uns hier einem vorgelagerten Thema widmen – der Frage nach Krieg und Frieden. 

Europa schaffte es, ganze zwei Weltkriege innerhalb von kaum mehr als 30 Jahren auszutragen. Mit etwa 17 Millionen Todesopfern im Ersten und etwa 60 Millionen in WWll war der Zweite Weltkrieg beispiellos in seiner menschlichen Zerstörungskraft. Ein Europa des Gegeneinanders war bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der allgegenwärtige Status Quo. Man geht davon aus, dass auf dem Kontinent seit Beginn der modernen Zivilisation über 600 bewaffnete Konflikte ausgetragen wurden. Was hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg verändert? Welche Schritte hat Europa unternommen, um nicht regelmäßig in den Kriegszustand zu geraten?

Nun, der Zweite Weltkrieg hat beispiellos gezeigt, welche vernichtende Wirkung moderne Waffen tragen und dass Frieden für alle europäischen Beteiligten der attraktivere Zustand ist. Das Augenmerk wanderte nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem nach Frankreich und Deutschland. Beide Staaten konkurrierten lange über die Vormachtstellung in Europa. Das zeigte sich unter anderem im deutsch-französischem Krieg 1870, in kolonialen Rivalitäten zwischen 1900 und 1913 und dem Vertrag von Versailles nach dem Ersten Weltkrieg 1919, der von großen Teilen Deutschlands als französisches Diktat und als tiefe Demütigung empfunden wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die politische Beziehung zwischen beiden Ländern eine Metamorphose durchlaufen. 

Im Jahre 1952 äußerte der damalige französische Außenminister Robert Schumann auf einer Pressekonferenz die Idee, die kriegswichtigen Rohstoffe Kohl und Stahl einer gemeinsamen hohen Behörde zu unterstellen – der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, kurz die EGKS. Nachdem die Gräueltaten des Naziregimes nicht einmal zehn Jahre rücklagen, wagt Schuman den Schulterschluss mit seinem europäischen Nachbar. Das war zu jenem Zeitpunkt ein revolutionärer Schritt. Dies war innenpolitisch höchst umstritten – dennoch setzte sich Schumann durch, weil er erkannte, dass ein friedliches Europa nur aus einer deutsch-französischen Freundschaft wachsen kann. 

Ein Waffenverbot scheint in der Realität kaum umsetzbar. Die EGKS setzt vorher an, indem Kohle und Stahl transparent gemeinsam gefördert werden, sodass keiner der Länder fürchten muss, dass ein Anderer heimlich aufrüstet. Sechs europäische Staaten schlossen sich der Montanunion oder EGKS an: Deutschland, Frankreich, Italien und die Beneluxstaaten. Diese bildeten die die Keimzelle der europäischen Integrationsgeschichte. 

Atomium Straßburg [Foto: Nediem Arem] 

Mit der Montanunion schafft man erstmals, was früher nie passierte. Man entscheidet gemeinsam für alle, gibt also ein wenig nationale Souveränität ab. Im Jahr 1957 wurden die römischen Verträge unterzeichnet, in der eine gemeinsame europäische Wirtschaftsgemeinschaft beschlossen wurde. Die sechs Staaten der EGKS beschlossen die Aufhebung von Zollabgaben beim gemeinsamen Handel. Außerdem wird mit der Gründung der Euratom die gemeinschaftliche zivile Nutzung der Atomkraft geregelt und man tritt erstmals gemeinsam gegenüber Drittländern auf. 

Dieses Experiment der gemeinsamen Politik, in der Staaten in wirtschaftlichen Angelegenheiten Teile ihrer nationalen Kompetenzen – und damit Teile ihrer Souveränität – abgeben, klappt. Es klappt so gut, dass sich weitere Teile Europas der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft anschließen. Großbritannien, Dänemark und Irland treten der EWG 1973 bei. In den 1980er Jahren treten Griechenland, Spanien und Portugal der Europäischen Union bei. Was  diese Länder gemeinsam haben? Den erst kürzlich erfolgten Sprung Richtung Demokratie. 

Im April 1974 stürzt Portugal mit der Nelkenrevolution das diktatorische Estado Novo Regime. Kurz darauf zerfällt im selben Jahr die griechische Militärdiktatur ;1975 stirbt in Spanien mit dem Diktator Francisco Franco ebenso die spanische Diktatur.  

Nachdem mit der Aufnahme dieser Länder der Mittelmeerraum stabilisiert wurde, kam es mit dem Vertrag von Maastricht 1992 zur eigentlichen Gründung der EU. Zu diesem Zeitpunkt gibt es nämlich noch nicht eine Europäische Union – es gibt die drei – EGKS, die Wirtschaftsgemeinschaft und die Euratom. Im Vertrag von Maastricht werden weitere Kompetenzen zu EU-Aufgaben. Die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Bereiche Justiz und Inneres sollen enger zusammenarbeiten. Weitere Länder treten im Jahr 1995 der EU bei: Österreich, Finnland, Schweden. 

Wir merken: Die europäische Integration ist gekennzeichnet von Vertiefung und Erweiterung. Vertiefung: Die Regierungen arbeiten auf immer mehr Ebenen enger zusammen und geben Teile ihrer Kompetenzen ab. Erweiterung: Immer mehr europäische Staaten schließen sich über die Zeit der EU an – die EU erweitert sich geografisch. Der Vertrag von Nizza bereitet die nächste Erweiterungsrunde vor, indem er das Stimmengewicht der Institutionen anpasst. Zehn Länder treten der EU im Jahre 2004 bei – im Rahmen der sogenannten Osterweiterung. Länder der ehemaligen Sowjetunion, wie Lettland, Litauen und Estland, sind hier dabei. Die Osterweiterung stellt die bedeutendste Erweiterung in der Geschichte der EU dar. Sie symbolisiert  die „Wiedervereinigung des Kontinents” und die „Rückkehr nach Europa” der Länder, die durch den Eisernen Vorhang von westeuropäischen Entwicklungen getrennt waren. 

Europa steht vor wichtigen Wahlen, bei denen Frieden und Zusammenarbeit im Mittelpunkt stehen. Nach zwei verheerenden Weltkriegen und über 600 bewaffneten Konflikten hat die EU durch enge Kooperation und gemeinsame Institutionen eine stabile Friedensordnung in Europa geschaffen und nationale Rivalitäten erfolgreich überwunden. Das Friedensprojekt der Europäischen Union zielt darauf ab, nationalistische und imperiale Tendenzen auf dem europäischen Kontinent zu zügeln. Durch immer intensivere Zusammenarbeit und immer tiefere politische Verflechtung der ursprünglich sechs und heute 27 Mitgliedsstaaten schafft die EU ein stabiles Fundament für den Frieden. 

Für diese friedliche Zusammenarbeit wurde die EU im Jahre 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Wie wir gesehen haben, ist der aktuelle Friedenszustand in Europa nicht selbstverständlich. Die Wahl am 09. Juni ist deshalb auch eine, in der die Zustimmung der EU abgefragt wird. Umfragen zufolge könnten in neun EU-Staaten rechtsnationalistische Parteien stärkste Kraft werden, die in Teilen die EU abgeschafft sehen wollen. Eine Rückbesinnung Richtung Nationalstaat könnte das Friedensprojekt Europa auf die Probe stellen – zumindest wenn man davon ausgeht, dass sich Geschichte unweigerlich wiederholt. Wenn ihr noch nicht genau wisst, was ihr wählen sollt, probiert doch mal den Wahl-o-mat.


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