Die Mausifizierung der Gesellschaft

Artikel: Anna Olivia Böke | Woher kommt der stetige Drang, alles und jeden als Maus zu bezeichnen? [Foto: Anna Olivia Böke]

Die Begriffe „Mausig”, „Mausflug” oder einfach mal die Chefin als „Maus” zu bezeichnen werden immer mehr zum Teil des Alltags der Generationen Y und Z. Es folgt eine Kolumne über den stetigen Drang, alles und jeden als Maus zu bezeichnen.

Es ist ein schleichender Trend – subtil, aber doch allgegenwärtig. Meine Angewohnheit, Dinge oder Personen als Maus zu bezeichnen, hat Phasen. Bei manchen Freund:innen und vor allem im Internet beobachte ich diese Tendenz jedoch immer mehr. Grenzen gibt es kaum: eine Freundin, der Opa vor mir an der Kasse, zu Hochzeiten kann auch mal die Stadtbahn eine Maus sein und ein Auto? – Kenn ich nicht. Mein bester Freund fährt seit neuestem keinen VW-Bus mehr, sondern einen Mauserati.

So richtig beschäftigt mich das Thema seit einem Video der Tik-Tokerin Lea Rothe. Sie bezeichnet die Mausifizierung der Gesellschaft als eine „nationale Krise” und erzählt aus ihrem Alltag. Die versehentliche Bezeichnung einer Auszubildenden und sogar ihrem Chef als Maus zählt sie zur Belästigung am Arbeitsplatz. Männer würden die Bezeichnung als Flirt missverstehen. Sie beendet das Video mit: „Ich kann nicht jeden Mensch Maus nennen. Das geht nicht.” – Aber was spricht eigentlich dagegen?

Die Maus ist schuld

Vielleicht lässt sich das Phänomen ganz rational erklären. Die Sendung mit der Maus, Micky Maus, Tatter vom Bär im Blauen Haus sind einige Beispiele aus der Kinder-Fernsehlandschaft, die die Generationen Y und Z in und durch die Adoleszenz begleitete. Entstand dieser Trend also, wie so oft, aus dem Kontext dessen, was uns als Kinder umgab?

In der deutschen Literatur, vor allem Kinderliteratur, Märchen und Fabeln, werden Mäuse häufig als allegorische Figuren verwendet. Mäuse können hier als metaphorisches Symbol für Kleinheit, Bescheidenheit, Unschuld, Niedlichkeit, Klugheit oder sogar List stehen. Vielleicht ist der Blick auf die Welt durch die mausgraue Brille ein Versuch der empathischen Entgegnung der Mitmenschen. Es handelt sich dabei nicht zwingend um eine forsche, gegebenenfalls unangebrachte Verniedlichung, sondern um die Aufbringung von Verständnis und das Verlangen nach Verbundenheit und Geborgenheit in einer zerrütteten Welt.

Die neuen Generationen müssen sich nicht nur mit Kriegen auseinandersetzen, sondern sind durch die Klimakrise auch mit den Fragen nach der Endlichkeit unserer Existenz und unseren Aufgaben auf diesem Planeten konfrontiert. Aus dem Weitwinkel des Universums betrachtet, sind wir Menschen noch so viel kleiner als die Maus in Relation zu uns. Wir fühlen uns neben all dem ab und zu klein, vielleicht wollen wir aber auch einfach manchmal lieber eine kleine, unscheinbare Maus sein, als uns ständig all diesen Herausforderungen stellen zu müssen. Eine mögliche Erklärung wäre also das Verlangen nach weniger Ernsthaftigkeit in einer Welt voller ernster Probleme. 

Noch weiter gedacht, ist es auch ein Aufstand gegen ein Überbleibsel des Spießbürgertums in der deutschen Sprache – das Siezen. Wenn sowohl Auszubildende, als auch Chef zur Maus werden, bringen wir so ein Verlangen nach Einheit zum Ausdruck. Es sollte keine sozialen Ungleichheiten oder Hierarchien zwischen Menschen geben, so der Konsens der Generation Maus. Dementsprechend sollten Unterschiede auch sprachlich nicht repetiert und so fortgeführt werden. Wenn der Mensch-Begriff zu ernst wird, sind wir alle Mäuse – ohne Ausnahmen, ohne wenn und aber!


Beitrag veröffentlicht

in

von