Der Ruf der Leere: Was wäre, wenn ich jetzt springen würde?

Artikel: Freya Pauluschke | Du stehst an einem Abgrund und dir kommt der mulmige Gedanke „Was wäre, wenn ich jetzt springen würde?“ [Foto: Freya Pauluschke]

Hattest du schonmal für einen Augenblick gruselige intrusive Gedanken, wie den Lenker auf der Autobahn einfach nach rechts zu ziehen, dich vor den einfahrenden Zug zu schmeißen oder von der Brücke zu springen? Wir haben mit Dr. Tobias Teismann von der Ruhr-Universität Bochum (RUB) über das High-Place-Phänomen gesprochen. Was hinter solchen intrusiven Gedanken steckt, erfährst du im Artikel.

Wem die oben genannten furchteinflößend erscheinenden Gedanken schonmal gekommen sind, braucht sich keine Sorgen machen, denn das ist völlig normal. Psycholog:innen nennen es das High-Place-Phänomen, auch Höhenphänomen oder Ruf der Leere (Call of the Void) genannt.

Wichtig zu erwähnen ist, dass es sehr wenig Forschung zum High-Place-Phänomen gibt. Die einzigen wissenschaftlichen Arbeiten sind eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2012 und eine 2020 veröffentlichte Studie der RUB. Bei der amerikanischen Studie wurden 431 Studierende online über ihre Erfahrungen mit dem Höhenphänomen, Suizidgedanken, Angstsensitivität, Depressionen und Stimmungsschwankungen befragt. Mehr als die Hälfte der Befragten hatte noch nie Suizidgedanken, jedoch schonmal das „high place phenomenon“, wie es in der Studie getauft wird, erlebt. Sie trägt den bereits aussagekräftigen Titel „An urge to jump affirms the urge to live […]”. Demnach handle es sich also beim Gedanken daran zu springen um Überlebenswillen.

Fehlinterpretiertes Sicherheitssignal

Dr. Tobias Teismann ist Psychotherapeut und Leiter des Zentrums für Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum und Autor der RUB-Studie. Sein Forschungsschwerpunkt ist Suizidalität. Er beschreibt den Gedanken, springen zu wollen, „nicht als Drang, sondern als Impuls. Es ist ein kurzer Moment oder ein Gefühl, in dem man den Gedanken hat, bei manchen äußert sich vielleicht ein kurzes Muskelzucken.“

Die Forschenden der US-Studie beschreiben, was beim High-Place-Phänomen passiert wie folgt: Der Erregungskreislauf im Hirn, der an Angst beteiligt ist, reagiert auf potenzielle Gefahren, indem er ein Sicherheitssignal schickt – in etwa wie „Pass auf! Du könntest fallen.“ Zweck des Sicherheitssignals ist es, dich sicher am Leben zu halten. Es wird so schnell ausgelöst, dass du automatisch einen Schritt zurücktrittst, ohne dir in dem Moment bewusst zu sein, warum. Erst kurz darauf, beim Versuch, dein Verhalten zu verstehen, schaltet sich dein langsameres Wahrnehmungssystem an und fehlinterpretiert das Sicherheitssignal als Todeswunsch in Kombination mit Höhen. Was uns also auf den ersten Blick wie Todessehnsucht erscheint, ist tatsächlich ein Schutzmechanismus unseres Gehirns.

Je angstsensitiver, desto stärker die Wahrnehmung des Höhenphänomens

Angstsensitive Menschen haben besonders oft solche Gedanken, sind also eher vom Höhenphänomen betroffen. Angstsensitivität bedeutet, dass du empfindlich oder ängstlich auf Körpersignale wie Herzrasen, Schwindel oder Schweißausbrüche reagierst und diese dir schneller Sorgen bereiten. Dr. Teismann gibt zu bedenken, dass es sich bei den zwei Studien nicht um super hochwertige Methoden handelt, da die Leute lediglich nach ihren Erfahrungen befragt wurden: „Es kann sein, dass Leute, die angstsensitiv sind, sich besser daran erinnern können, weil es für die in dem Moment relevanter war und sie mehr besorgt hat. Deshalb können sie bei einer Befragung eher davon berichten. Diejenigen, die weniger angstsensitiv sind, erinnern sich vielleicht einfach nicht mehr.“ Das heiße nicht gleich, dass letztere Personen weniger mögliche Gefahren wahrnehmen oder nicht trotzdem schonmal vom High-Place-Phänomen betroffen waren.

Wo zieht man die Grenze zur Suizidalität?

Beim Höhenphänomen verspüren Betroffene Angst, weil sie sich fragen „warum habe ich solche Gedanken, das hat nichts mit meinem Leben zu tun“. Entscheidend anders sei es bei Menschen, die an einer echten Suizidalität leiden. Anfangs machen Suizidgedanken Betroffenen möglicherweise Angst, aber im späteren Verlauf wird eher Trauer und Hoffnungslosigkeit erzeugt. „Die einen sagen ‚das hat nichts mit meinem Leben zu tun, warum habe ich das?‘ und die anderen mit der echten Suizidalität würden sagen ‚mein Leben ist gerade superschwierig und ich kann nachvollziehen, warum ich Suizidgedanken habe‘“, erklärt Dr. Teismann.

Dr. Teismann zieht den Vergleich zu Zwangserkrankungen. Intrusive Gedanken, wie etwas Unangebrachtes an einem stillen Ort laut auszurufen oder jemandem die Kaffeetasse über den Kopf zu schütten, seien total normal. Jedoch werden sie zum Zwang, wenn die Person ihre Gedanken als bedrohlich für sich selbst und andere Menschen wahrnimmt. Dann kann es zur Pathologie werden, wodurch erst das wirkliche Problem an intrusiven Gedanken entsteht. „Studien besagen, dass 90 Prozent der allgemeinen Bevölkerung intrusive Gedanken kennen. Plump gesagt, haben wir Menschen eine so kreative Vorstellungskraft, dass diese uns manchmal auch mit fragwürdigen Gedanken austrickst“, so der Psychotherapeut.

Ohne Grund zur Sorge stellt das High-Place-Phänomen also vielmehr unseren Überlebenswillen, als den Drang zu springen dar. Lediglich durch ein fehlinterpretiertes Sicherheitssignal und möglicher verstärkter Wahrnehmung des Phänomens durch hohe Angstsensitivität, wirken Situationen des Call of the Void gefährlich und befremdlich auf uns.


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