Buch des Monats: Dschinns

In unserem monatlichen Buchtipp empfehlen wir euch diesmal einen berührenden Familienroman: Dschinns. Dieser erschien 2022 und ist nach „Ellbogen“ der zweite Roman der Schriftstellerin und Journalistin Fatma Aydemir. 2022 war er für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Artikel: Selome Abdulaziz | Mit unserem Buchtipp kommt ihr gut durch den verregneten Herbst. [Foto: Selome Abdulaziz]

„Wenn jede Familie ein Gebilde aus Erzählungen ist, was bedeuten die Lücken darin? Brauchen wir sie, weil die ganze Wahrheit nicht zu ertragen ist? Oder bringen sie am Ende alles zum Einsturz?“ Diese Fragen stellt Fatma Aydemirs Roman Dschinns. Sie erzählt die Geschichte der deutsch-türkisch/kurdischen Familie Yilmaz. Nachdem der Familienvater Hüseyin 30 Jahre lang als sogenannter Gastarbeiter in Deutschland gearbeitet hat, erfüllte er sich in seiner Frührente den Traum einer Eigentumswohnung in Istanbul, die er liebevoll einrichtete. Kurz nach seiner Ankunft in der Wohnung stirbt er plötzlich an einem Herzinfarkt. Die anderen Familienmitglieder reisen zu Hüseyins Beerdigung nach Istanbul und treffen dort in der Wohnung aufeinander.

Jedes Familienmitglied bekommt ein eigenes Kapitel, das uns Leser:innen einen Einblick in die Innenwelt der einzelnen Figuren erlaubt. Dabei wechselt Aydemir zwischen dem aktuellen Geschehen rund um die Beerdigung und vergangenen Ereignissen im Leben der Figuren. Das erste Kapitel widmet sich Hüseyin und zeigt seine letzten Momente. Aus der Perspektive des 15-jährigen Ümits erfahren wir von seinem Struggle mit dem Thema Männlichkeit und einer unerwiderten Liebe. Die älteste Tochter Sevda hat ein sehr angespanntes Verhältnis zur Mutter Emine. Sie hat sich vor einigen Jahren mit einem Restaurant selbstständig gemacht und eine eigene Familie gegründet. Die feministische Peri ist zum Studieren nach Frankfurt gezogen und macht dort eine mysteriöse Begegnung, die sie ihren kurdischen Wurzeln näherbringt. Die kurdische Herkunft der Familie haben die Eltern aus Angst vor Repression stets unterdrückt und untereinander nur Türkisch und Deutsch gesprochen. Der älteste Sohn Hakan beschließt, statt zu fliegen, mit dem Auto zur Beerdigung seines Vaters zu fahren. Auf der Fahrt gerät er in die Schikane deutscher Polizisten. Das letzte Kapitel handelt von der Mutter Emine, die in einem emotional aufgeladenen Gespräch mit ihrer Tochter Sevda einige Geheimnisse lüftet.

„Die Wahrheiten, die immer da sind“

In einem Gespräch zwischen Peri und Ümit, die sich von den Geschwistern am besten zu verstehen scheinen, erklärt Peri ihrem jüngeren Bruder, was Dschinns ihrer Meinung nach sind. Die Wesen bevölkern laut dem islamischen Glauben neben Menschen, Engeln und Satanen die Erde. „Dschinns sind alles, was wir komisch finden, anders, unnatürlich. Wenn jemand nicht dem entspricht, was die meisten Menschen als normal empfinden, heißt es schnell: Der und der ist von einem Dschinn besessen“, erklärt Peri. Abweichung von der Norm ist eines der zentralen Themen in dem Roman. Es geht um queere Charaktere, psychische Probleme, eine Frau, die entgegen dem Willen ihrer Familie ihren Ehemann verlässt. Auch politische Fragestellungen lässt Aydemir gekonnt in die Geschichte einfließen. In der Türkei erfahren wir von der Unterdrückung kurdischer Menschen, in Deutschland erlebt die Familie rassistische Gewalt.

Durch die verschiedenen Ebenen und Perspektiven ist die Geschichte nicht chronologisch, vielmehr sind es Fragmente, die wir selbst zusammensetzen müssen. Viele Szenen werden in mehreren Kapiteln beschrieben und bekommen dadurch mehr Tiefe. Aydemir schafft es, die Charaktere mit allen Facetten und Fehlern zu zeigen, sodass ein Verständnis für alle möglich wird. Die Familie Yilmaz ist durchzogen von unausgesprochenen Wahrheiten, Geheimnissen, Schuldgefühlen und Anschuldigungen. „Vielleicht sind das die Dschinns, die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer“, schreibt Aydemir. Die Tragik der Familienmitglieder ist, dass sie immer nur ihre eigene Perspektive, die Opfer, die sie gebracht haben und das Unrecht, das ihnen angetan wurde, im Blick haben, ohne aufeinander zuzugehen. Sie hat so realistische Charaktere gezeichnet, dass ich mir genau vorstellen kann, wie Familie Yilmaz in der Wohnung mit Hüseyins Geist beisammen sitzt und einander vielsagend anschweigt.


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