Blind studieren: „Ich bin zuversichtlich, weil ich den Mut habe, Menschen anzusprechen.“

[Artikel: Selome Abdulaziz | 2021]

Rasmus Narjes ist 21 Jahre alt, studiert Jura in Hamburg und ist vollblind. Das bedeutet, dass er bis auf die helle Sonne nichts sehen kann. Wie das seinen Alltag als Student beeinflusst, erzählt er uns im Schwerpunktportrait.

Rasmus ist schon einige Minuten vor unserem Termin im Zoom-Raum und wartet dort. Im Hintergrund sieht man eine weiße Wand und ein schmales Fenster seines Wohnheimzimmers. Er trägt einen dunklen Pullover. Aufgewachsen ist er in der Lüneburger Heide bei Bispingen in Niedersachsen. „Mitten auf dem Land“, wie er sagt. Vor zwei Jahren ist er für sein Studium nach Hamburg gezogen. Die Zeit nach dem Auszug war für den blinden Studenten zunächst sehr schwierig. „Einmal das Studium zu beginnen und gleichzeitig selbstständig zu wohnen, das war natürlich eine doppelte Herausforderung und Überforderung.“ 

Ein Grund für die Wahl seines Studiengangs war die Zugänglichkeit des Studiums, da man fast nur mit Texten arbeite und die Gesetzestexte so gut wie alle digital zur Verfügung stehen. Durch eine Sprachausgabe-Software auf seinem Laptop kann Rasmus sich die Texte vorlesen lassen. Gleichzeitig hat er eine Braillezeile angeschlossen, die er mir zeigt, indem er sie in die Kamera hält. „Das ist ein Board, mit dem ich die Blindenschrift am PC lesen kann. Das ist mit einem Kabel an den Laptop angeschlossen und mit Hilfe einer Software erscheinen die Punkte auf der Zeile.“ Das ist für Rasmus praktisch, weil er so alles in Blindenschrift parallel lesen kann. „Man muss dazu sagen, mein Nachteil ist, dass ich Texte nicht richtig überfliegen kann, sondern ich muss eben Zeile für Zeile lesen. Das ist ein ganz schöner Zeitaufwand.“

„Die Assistenz ist schon ein wichtiger Teil meines Studiums.“

Bei Prüfungen sitzt Rasmus in einem separaten Raum und hat eine Assistenz, die ihm Gesetze vorlesen und im Gesetzbuch nachschlagen kann. „Ich schreibe dann ganz normal am PC meine Klausur, ich kann mit 10 Fingern schreiben.“ Um die Assistenz habe er sich selbst kümmern müssen und eine Stellenanzeige ausgeschrieben. „Ich habe dann beim Amt für Eingliederungshilfe einen Antrag gestellt und im Umfang von 60 Stunden im Monat eine Assistenz gewährt bekommen. Allerdings war dieser Antrag aufwändig und mit viel Bürokratie verbunden. Aber es hat sich gelohnt.“ Rasmus lacht kurz. Seine Assistenz hilft auch bei Hausarbeiten mit der Recherche aus Büchern, sie arbeitet Präsentationen um und unterstützt ihn bei bürokratischen Angelegenheiten. „Die Assistenz ist schon ein wichtiger Teil meines Studiums“, fasst Rasmus zusammen.

Bei der Frage, ob er auch beim Staatsexamen Hilfsmittel gewährt bekommt, muss der Jurastudent nachdenken. Danach habe er sich noch nicht erkundigt. Er überlegt: „Da das fünf Stunden sind, hätte ich dafür zehn Stunden Zeit. Das wäre krass, zehn Stunden Klausur zu schreiben.“ Er hofft, dass er die Zeitverlängerung und seine Assistenz bekommt und möchte sich früh genug darum kümmern. Er bleibt trotzdem entspannt, sein Optimismus wird hier besonders deutlich. Für ihn ist seine positive Einstellung eine wichtige Stärke, um das alles zu meistern. „Ich bin zuversichtlich, weil ich den Mut habe, Menschen anzusprechen. Das ist natürlich schon mal ein recht guter Vorteil“, sagt er fröhlich.

Begeisterung für Jura, ob online oder in Präsenz

Wenn Rasmus von seinem Studium spricht, wirkt er fasziniert und bewegt sich viel auf seinem Stuhl hin und her. „Das Studium macht mir viel Spaß, besonders spannend finde ich das Familienrecht.“ Sein Interesse für das Fach Jura begann in seiner Abiturzeit. Dafür waren die guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt nach dem Studium ausschlaggebend, da man viel mit Sprache arbeitet und er dort seine Stärke sieht. „Als Blinder hat man es nicht so leicht auf dem Arbeitsmarkt, deshalb habe ich mir Jura ausgesucht.“ Als er über seine Zukunft spricht, lehnt Rasmus sich interessiert auf seinem Stuhl nach vorne. Er kann sich vorstellen, mal Familienrichter zu werden, oder auch in der Verwaltung zu arbeiten. 

Jetzt kommt er aber erstmal ins fünfte Semester, wobei er die vergangenen drei Semester im Online-Semester verbracht hat. Sein erstes Semester war noch in Präsenz, was ihm sehr guttat. „Wir hatten da eine Orientierungswoche ganz am Anfang, da habe ich die meisten Kontakte geknüpft, die ich immer noch habe.“ Er hat viel Zeit mit Mitstudierenden verbracht und konnte die Kontakte in den Online-Semestern gut nutzen. Das Online-Studium brachte für ihn Vorteile mit sich, weil es die meisten Unterlagen online gab und er diese mit Unterstützung seiner Software und der Braillezeile auf dem PC erfassen kann. „Das ist natürlich ein riesiger Vorteil, dass durch Corona quasi die Bibliotheken gezwungen waren, Sachen online zu stellen und sich da zu bemühen, dass alle Studierenden die Unterlagen online bekommen.“

Trotzdem wünscht Rasmus sich den Präsenzunterricht zurück, „damit man auch in einen persönlichen Austausch kommt, damit man debattiert und diskutiert und gemeinsam Zeit verbringt, auch unabhängig vom Studium.“ Er erzählt, dass er gleich noch mit einem Kommilitonen in der Bibliothek verabredet ist und sie dort ihre Hausarbeiten weiterschreiben wollen. Da die beiden zum gleichen Thema recherchieren müssen, arbeiten sie zusammen. „Er wird mir ein bisschen aus den Büchern vorlesen und Informationen raussuchen. Das ist natürlich schöner, wenn man das in Präsenz machen kann.“

Unterstützung in der Uni

Generell erfuhr Rasmus viel Zuspruch durch seine Kommiliton:innen. Er hat das Gefühl, dass alle sehr offen und interessiert sind. Direkt in der ersten Woche des Studiums boten einige an, ihn abzuholen, und stellten Fragen. „Ich war wirklich sehr, sehr zufrieden damit, wie Studierende mit mir umgegangen sind“, sagt er erleichtert. Es macht sich laut Rasmus auch bezahlt, dass er die Leute offen anspricht. In den Online-Semestern hat er dann auch öfter Nachrichten und Fragen zu Themen aus dem Studium bekommen. „Einem wird viel geholfen, aber man selber kann im fachlichen Bereich auch was zurückgeben, und das beruht dann auf Gegenseitigkeit.“

Von seiner Uni bekommt der gebürtige Niedersachse zwar Unterstützung, muss sich aber um Vieles selbst kümmern, was er manchmal anstrengend findet. Das Meiste funktioniert aber, wenn er sich dafür einbringt. Er erhält zum Beispiel einen Nachteilsausgleich. Dadurch hat er mehr Schreibzeit bei Klausuren und kann sich bevorzugt für Veranstaltungen anmelden. Als besonders hilfsbereit bezeichnet er die Mitarbeiter:innen der Bibliothek. „Wenn ich frage: ‚Kann ich ein Buch bekommen, gibt es das online?‘, forschen sie immer nochmal nach und suchen die Bücher für mich“, erzählt der Student begeistert. Auch ein Mitarbeiter vom Prüfungsamt war entgegenkommend und sein Büro stand für ihn immer offen. „Der Hausmeister hilft einem einen Raum zu finden. Die sind eigentlich alle sehr hilfsbereit.“

Das Verständnis von Seiten der Dozierenden beschreibt er als „teils, teils“. In seinem ersten Semester habe es Dozierende gegeben, die nicht barrierefreie Arbeitsblätter austeilten. „Als ich sie darauf hinwies, sind einige gar nicht darauf eingegangen“, stellt Rasmus nüchtern fest. In den Online-Semestern habe ihn gestört, dass viele Dozierende nicht erreichbar waren und auf Nachfragen zu den hochgeladenen Präsentationen nicht reagierten. „Aber das hat ja nicht unbedingt was mit der Blindheit zu tun, das ist eher ein allgemeines Problem.“ In Bezug auf seine Blindheit sei bei einigen Verständnis da gewesen. Einen Professor lobt er besonders. Er hat ein Buch geschrieben, das es nicht online gab. Als Rasmus ihm deshalb eine Nachricht schrieb, stellte er ihm die PDF-Datei zur Verfügung. „Solche Kleinigkeiten sind tolle Geschichten für mich.“

Wunsch nach besserer Vernetzung

Obwohl er offen ist und Unterstützung bekommt, steht Rasmus manchmal vor Herausforderungen in seinem Studium. Zunächst nennt er die Menge an Material und das viele Auswendiglernen. Was ihm aber noch schwerer fällt ist „dieses Nebenbei: Anträge schreiben, irgendwo hingehen und Dinge organisieren.“ Solche Aktivitäten brauchen alle viel Zeit, was ihn zusätzlich belastet. „Als ich mich letztens für die Veranstaltungen anmelden wollte, hat das ziemlich lange gedauert, weil ich mich auf den Homepages zurechtfinden musste“, erzählt er von seinen Anstrengungen.

Um ihm sein Studium zu erleichtern, wünscht sich der Wahlhamburger bessere Vernetzung zwischen anderen blinden Jurastudierenden. „So eine einfache Plattform, die es ermöglicht, Fragen zu stellen wie: ‚Hast du dieses Buch online als PDF?‘, ‚Welchen Scanner benutzt du?‘.“ Rasmus kennt an seiner Uni noch einen blinden und einen sehbehinderten Studenten, die beide auch Jura studieren. „Die Problemlagen sind häufig sehr individuell, da es unterschiedliche Blindheitsgrade gibt. Da einen Überblick zu bekommen und einen guten Ansprechpartner zu finden, ist kompliziert.“

Am Schluss möchte Rasmus betonen: „Als Blinder kann man eigentlich genauso gut studieren wie jeder andere, auch wenn nicht alles immer reibungslos läuft. Man muss nur den Mut haben, Leute anzusprechen und auch was Neues auszuprobieren.“


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