Album des Monats: Formal Growth In The Desert – Protomartyr

Artikel: Anna Olivia Böke | Protomartyr kehren zurück mit zwölf Geschichten, die über das Leben während eines unausweichlichen Verlustes nachdenken. [Foto: Anna Olivia Böke]

Die Detroiter Post-Punker Protomartyr haben am 02. Juni ihr sechstes Studioalbum via Domino Records veröffentlicht. Wieso es sich lohnt, in die melodischen Dystopien und Arthouse Musikvideos der Band reinzuschauen, erfahrt in dieser Review.

Protomartyr machten in den 2010er Jahren erstmals auf sich aufmerksam. Sie stürmten mit ihrer wütenden, poetischen und rauen Rockmusik in die Szene herein, die von Texten durchzogen war, die auf die politische Verkommenheit Amerikas und die tückische Hingabe zum Kapitalismus hinwiesen. Ihr Debütalbum von 2012, No Passion All Technique, war eine schnelle, laute Ode an den Verfall und die faszinierenden Charaktere ihrer Heimatstadt Detroit. Es führte die Hörer:innen in Greg Ahees geschicktes Gitarrenspiel, den Bassisten Scott Davidson und das Talent des Schlagzeugers Alex Leonard sowie Sänger Joe Caseys ruppige Lyrik ein.

Mehr als ein Jahrzehnt später erscheint ihr sechstes Album Formal Growth In The Desert, bei dem sich die Band erneut zum Ziel setzt, die Energie einer bestimmten Umgebung heraufzubeschwören. Diesmal jedoch symbolisch. „Die Wüste ist eher eine Metapher oder ein Symbol für emotionale Wüsten oder einen Ort oder eine Zeit, die anscheinend ohne Leben ist.“, so erklärte Casey in einem Interview die Motivation ihres neuesten Albums. 

Besonders heraus sticht bei dem Album das Schlagzeug-Arrangement. Leonard verpasst keine Gelegenheit bei einem minimalen Kit mit maximaler Kreativität zu glänzen und rhythmische Spannungen aufzubauen. Neben den größtenteils gesprochenen poetischen Lyrics haben zahlreiche interessante, Effekt-beladene Gitarrenriffs Platz, die in meinen Augen die Musik von Protomartyr so besonders machen. 

Mit dem Tod des Vaters von Sänger Joe Caseys beschäftigte sich die Musik von Protomartyr bereits intensiv. Vor den Aufnahmen des neusten Albums ereigneten sich mehrere Einbrüche in das Elternhaus des Sängers in Detroit und der Tod seiner Mutter, die eineinhalb Jahrzehnte lang gegen Alzheimer kämpfte.

Die Band nahm das Album auf der Sonic Ranch in Tornillo, Texas auf, wo Casey Inspiration aus den markanten Felsformationen und sandigen Weiten des Südwestens schöpfte, die seine Realität im großen Ganzen als weniger schwerwiegend erscheinen ließen. Diese Perspektive manifestiert sich in zwölf lebendigen und energiegeladenen Geschichten, die über das Leben während eines unausweichlichen Verlustes nachdenken und sich mit der schwierigen, aber möglichen Herausforderung befassen, wieder Freude zu finden, indem man voranschreitet.

Dieser kreative Einfluss ist auf Formal Growth In The Desert nicht nur in den Texten zu hören, sondern auch in der Hinzufügung von schwellenden Synthesizern, Pedal Steel Gitarren und klanglicher Weite. Es entsteht ein kinematographischer Sound, der fast greifbar scheint.

Die erste Single Make Way beginnt mit einer gesprochenen Einleitung „Welcome to the hungry earth“ über tröpfelnden Gitarren, die langsam Spannung aufbauen, bevor sie in Leben explodieren. Elimination Dances schleicht sich dann mit dem klirrenden Geklimper eines Spaghetti-Westerns ein, während Casey über die Entstehung des Albums reflektiert – „In the desert I was humbled, seeing what a thousand years of ice did“ – über langsam ansteigende und manchmal verzerrte Gitarren, bevor er im Refrain landet.

In Polacrilex Kid erzählt Protomartyr eine Geschichte von Selbsthass, Versagen und Inquisition und fragt überlagert von ekstatischen Punk-Gitarren: „Can you hate yourself and still deserve love?“ Das Abschlussstück Rain Garden scheint diese Frage zu beantworten. Verwirrende, intensive und anschwellende Arrangements umgeben Caseys Stimme, während er singt: „I am deserving of love. They’ll say it’s just a love song. But love, love has found me“. Ein Zusammenbruch von stolpernden Synthesizern und gemessenen, pulsierenden Schlagzeugbeats unterstützen diese Behauptung.

Auf diesem Album sind einige Momente zu finden, die den Puls höher schlagen lassen. Es ist schwer, einen Favoriten festzustellen, aber zu den Highlights müssen definitiv der mit Gitarrenriffs glänzende C-Part in We Know The Rats und der Hymnen-artigen Outro Gesang in Let’s Tip The Creator, sowie der Drumbeat mit prominent doppelt gespielter Hi-Hat in Graft Vs. Host gehören.

Wüsten sind karge Landschaften mit feindseligen Bedingungen, in denen Menschen nicht überleben können, aber Protomartyr fühlen sich hier zu Hause: Sie wachsen, expandieren und stellen den trockensten und düstersten Teilen der Menschheit einen Spiegel vor, und laden ihre Hörer dazu ein, darüber nachzudenken.


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