Das Ruhrgebiet als neue Heimat 

Artikel: Saskia Ziemacki | Im Ruhrgebiet finden viele Geflüchtete Sicherheit. [Foto: Freya Pauluschke]

Zahlen und Statistiken sind meist alles, was wir über Geflüchtete im Ruhrgebiet erfahren. Der Verein Ruhrdialog bringt drei zugewanderte Menschen bei einer virtuellen Podiumsdiskussion zusammen, um durch persönliche Geschichten in den Dialog zu kommen.

Die Themen Zuwanderung, Flucht und Vertreibung beschäftigen viele spätestens seit dem Jahr 2015, als über eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Es gab eine große Willkommenskultur, aber ebenso viel Ablehnung und Rassismus. Auch in politischen Debatten wie bei den Landtagswahlen 2021 in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sind Integration und Asyl präsente Begriffe. Dabei wird viel über sogenannte unsichere Herkunftsländer, Obergrenzen und Abschiebungen diskutiert – Streitthemen, die ein abwertendes Licht auf die Immigration werfen. Auf der anderen Seite wird die wirtschaftliche Bedeutung von Zuwanderung positiv beleuchtet, durch ein Entgegenwirken des Fachkräftemangels.   

Eins steht jedoch fest: „Es wurde oft über diese Menschen gesprochen, weniger mit ihnen. Auf lokaler Ebene bleibt viel Redebedarf“, moderiert Volkan Demirel, Vorsitzender des Vereins Ruhrdialog, die Podiumsdiskussion „Ruhrgespräche 2021: Neue Heimat Ruhrgebiet“ an. Der Verein setzt sich für einen interreligiösen und interkulturellen Dialog ein, um Vorurteile abzubauen und ein friedliches Miteinander zu schaffen. „Es ist wichtig”, so Demirel, „nicht nur allgemein über Geflüchtete zu reden, sondern auf persönliche Erfahrungen und Erfolgsgeschichten zu schauen.” Deshalb hat der Verein drei zugewanderte Menschen eingeladen, um über ihren Weg in die deutsche Gesellschaft und ihr jetziges Engagement zu sprechen. Bei einem anschließenden offenen Forum konnten Fragen an die Referent:innen Paulette Temgoua Mbosso aus Kamerun, Matti Esmail aus dem Irak und Monira Wali aus Afghanistan gestellt werden.

Für Paulette Temgoua Mbosso war es nicht leicht, in Deutschland Fuß zu fassen. Doch jetzt ist das Ruhrgebiet ihre neue Heimat geworden. Ursprünglich aus Kamerun, kam sie als Au-pair nach Deutschland, hat Soziale Arbeit an der Universität Duisburg-Essen studiert und arbeitet jetzt in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung. „Was ich hier geschafft habe, hätte ich in Kamerun nie schaffen können.” Bei einem Praktikum in einer Flüchtlingsunterkunft hat sie gemerkt, wie viel Freude es macht, Menschen zu helfen. „Das größte Problem ist die Sprachbarriere”, so Temgoua Mbosso, „weshalb ich mich entschieden habe, eine Flüchtlingsberatung anzubieten.” Was mit einem Facebook-Kanal zusammen mit ihren Kindern anfing, wurde 2019 zu einem Verein mit sozialpädagogischem Profil und interkultureller Ausrichtung. Das Ziel von World Happy Families Empowerment ist es, Menschen in Not zu helfen und die Integration zu fördern – durch Computerkurse, Freizeitaktivitäten für Kinder und Jugendliche, Seminare zum Umgang mit Konflikten und vielem mehr. 

Matti Esmail ist 60 und kommt ursprünglich aus dem Irak. Er ist seit 2015 in Deutschland und lebt jetzt in Gelsenkirchen. Sein Heimatort wurde vom sogenannten Islamischen Staat eingenommen, seine Familie flüchtete in die Türkei und Esmail kam alleine nach Deutschland. Seine Familie folgte erst 14 Monate später. Er entschied sich für Deutschland, weil es hier ein gutes Gesundheitssystem, eine starke Ökonomie und Sozialhilfe gibt, aber vor allem, weil es Sicherheit bietet. „Vor Rassismus habe ich im Ruhrgebiet keine Angst, denn ich habe es hier noch nicht erlebt”, beteuert Esmail. Um sofort deutsch zu lernen, trat er einem Chor bei und ging wöchentlich zu Seniorentreffen. Außerdem ist er Mitglied bei der Chaldäischen Liga in Deutschland, einem gemeinnützigen Verein in Essen. Er setzt sich für eine Integration in die deutsche Gesellschaft ein und unterstützt in Not geratene Menschen im Irak und in Syrien. Die Chaldäische Liga ist auch im VielRespektZentrum in Essen aktiv – einem Sammelpunkt für viele kulturelle Vereine, der kostenlose und öffentliche Räume für Begegnungen bietet.

Die Erinnerungen an die Flucht sind für Monira Wali zu schmerzhaft, um darüber zu sprechen. Sie kommt aus Afghanistan und ist seit fünf Jahren in Deutschland. „In Gedanken bin ich immer in der Heimat, doch zurück möchte ich nicht”, überlegt Wali. Das Ruhrgebiet gibt ihr eine Sicherheit, die sie dort aufgrund von Krieg nie hatte. Wali arbeitet als Orthoptistin in der Augenheilkunde. Ihre Leidenschaft ist es jedoch, anderen Menschen zu helfen. Deshalb engagiert sie sich ehrenamtlich in der katholischen Kirche. Wali ist Leiterin der afghanischen Frauengruppe „Interkulturelle Frauen“, die sich vor der Pandemie regelmäßig in der Kirche St. Getrud im Essener Nordviertel getroffen hat. Dort diskutieren sie über Frauenrecht, Integration, die deutsche Sprache und Kultur. „Die Treffen haben einen sehr positiven Einfluss auf die Frauen”, so Wali. Sie seien dazu da, um kein Heimweh zu bekommen, Stress abzubauen und sich in die Gemeinschaft einfügen können. Die Gruppe nimmt an Demonstrationen zu Vielfalt und Respekt teil, an Empowerment-Kursen für Frauen und veranstaltet traditionelle Feste mit Musik und Tanz.


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