Wir lieben uns und andere – Polyamorie im Portrait 

Artikel: Selome Abdulaziz | Polyamore und offene Beziehungen werden in der Öffentlichkeit immer präsenter. Wir haben uns das Thema näher angeschaut. [Illu: Lisa Johanna Förster]

Shelly und Robyn führen seit etwas über einem Jahr eine nicht-monogame Beziehung. Kennengelernt haben sich die beiden über die Dating-App OkCupid. In unserem Schwerpunkt-Portrait erzählen sie, wie sie ihre Beziehung gestalten.

„Unsere Beziehung lässt sich am ehesten als eine Mischung aus offener und Poly-Beziehung beschreiben“, erklärt Robyn. Das bedeutet, dass sie romantische Beziehungen mit weiteren Personen führen, aber auch locker daten oder mit anderen schlafen können. Robyn ist 26 Jahre alt und arbeitet neben dem Studium der Sozialen Arbeit im betreuten Wohnen für Menschen mit Behinderung. Robyn ist trans und nutzt die Pronomen they/them. Shelly ist 29 und arbeitet in der Schulbegleitung an einer Förderschule. Shelly nutzt hen/hem als Pronomen und ist gender-questioning. Diese Bezeichnung benutzen Personen, die (noch) kein passendes Label für ihre Geschlechtsidentität gefunden haben. They/them und hen/hem werden genauso benutzt wie die Personalpronomen er und sie. Von ihrer Beziehung erzählen die beiden mir über Zoom – gemeinsam aus Robyns Wohnung. Trotz der räumlichen Distanz sind beide sehr herzlich und es herrscht eine lockere Atmosphäre.

Von Beginn an sei klar gewesen, dass es eine nicht-monogame Beziehung sein soll. „Der Stand jetzt ist…“, beginnt Robyn und schaut Shelly dabei an. „Nur wir beide sind momentan zusammen“, ergänzt Shelly. In dem Gespräch passiert es öfter, dass die beiden gegenseitig ihre Sätze beenden. Neben ihrer Beziehung daten sie auch noch andere Personen. Zwischenzeitlich war Robyn für einige Monate in einer Beziehung mit einer weiteren Person. Auch Shelly war in der Kennenlernphase der beiden in einer weiteren Beziehung. Sie führen allerdings keine Dreierbeziehung, also eine sogenannte Triade. „Wir sind zwei fest miteinander verbundene Personen und daten mal andere. Sowohl casual als auch was Festeres ist erlaubt“, erzählt Shelly.

Robyn (l.) und Shelly (r.) führen eine offene, polyamore Beziehung. [Foto: privat]

Beim Thema Poly oder offene Beziehung ist für viele Menschen Eifersucht ein kritischer Faktor. Für Robyn spiele das aktuell keine Rolle. „Ich bin darüber erstaunt, wie wenig eifersüchtig ich bin. Das habe ich nicht erwartet.“ Für Shelly kam Eifersucht anfangs vor. „Aber ich habe viel darüber nachgedacht und fand es heilend zu erkennen, woher meine Eifersucht kommt.“ Hen sieht die Ursache in Verlustängsten, also die Angst davor, nicht genug zu sein. Um damit umzugehen, ist für beide offene und transparente Kommunikation sehr wichtig. Deswegen haben sie angefangen, etwa einmal im Monat ein Beziehungsreflexionsgespräch zu führen. Inspiriert hat sie dazu der Podcast Multiamory.

Welche Regeln gibt es?

Robyn und Shelly versuchen, keine Hierarchien in die Beziehungen zu bringen. „Wobei man merkt, dass die Beziehung, die schon länger besteht. eine andere Priorität hat als etwas, das sich frisch entwickelt“, bemerkt Robyn. Shelly betont, dass für hen Beziehungen immer individuell sind. Hen bekommt in unterschiedlichen Beziehungen von unterschiedlichen Menschen verschiedene Qualitäten. „Bei Robyn habe ich diese Sicherheit, weil wir uns kennen und lange zusammen sind. Wenn ich jetzt eine brandneue Person date, ist alles erstmal super aufregend und kribbelt, das habe ich bei dir nicht mehr so“, sagt Shelly mit einem Grinsen an Robyn gerichtet. Beide lachen kurz. Zeitweise wirkt unser Telefonat wie ein Gespräch zwischen den beiden, dem ich lauschen darf. „Das sind beides wertvolle Erfahrungen, da mag ich es nicht zu sagen, das eine sei wichtiger als das andere“, sagt Shelly. 

Auch feste Regeln gebe es eher weniger, aber laut Robyn versuchen sie, die Zeit miteinander nicht zu sehr einzuschränken, wenn sie noch andere Leute daten. „Dass es sich teilweise überschneidet, ist klar. Wir wollen aber das Level an Zeit, das wir momentan miteinander verbringen, halten“, sagt they. Was die Personen angeht, die die beiden daten, gebe es keine Einschränkungen. „Oft daten wir Leute, die wir über Apps kennenlernen und da unsere Ansichten ähnlich sind, spuckt uns der Algorithmus auch oft die gleichen Leute aus“, so Shelly. Deshalb haben die beiden öfter Matches mit den gleichen Personen und hatten auch schon ein Date zu dritt. Shelly erzählt: „Wir halten es auch nicht geheim, wenn wir jemanden daten, meistens kennen wir die Leute nach einer gewissen Zeit auch.“ Eine implizite Regel zwischen ihnen ist, dass sie sich regelmäßig auf sexuell übertragbare Krankheiten testen lassen.

Der Weg zur Poly Beziehung

Für Robyn ist die Beziehung zu Shelly die erste polyamore Beziehung. They hatte jedoch in früheren Beziehungen bereits den Gedanken daran. „Diese Person, die ich date, ist mir wichtig. Aber ich merke, es fehlt noch was.“ Das war aber für die Partnerpersonen keine Option. „Als ich dann single war und wieder anfangen wollte zu daten, habe ich mich gezielt mit dem Gedanken, nicht-monogam zu daten, bei OkCupid angemeldet.“ Shelly hingegen hatte bereits eine nicht-monogame Beziehung. In einer längeren, monogamen Beziehung hat hen sich in eine andere Person verliebt und hatte dadurch große Probleme mit sich selbst. „Ich wusste noch nicht viel über Polyamorie und dachte: ‚Liebe ich meine Partnerperson, wenn ich mich in jemand anderen verliebe?‘“ Diesen Zwiespalt konnte Shelly irgendwann auflösen: „Wenn ich zwei Elternteile lieben kann und zwei Geschwister und zwei Haustiere, dann kann ich auch zwei Menschen romantisch lieben.“ Shelly und hens Partnerperson haben dann eine Poly-Beziehung ausprobiert, was allerdings in der Konstellation nicht funktionierte. 

Für Robyn liegt der größte Unterschied zu einer monogamen Beziehung darin, dass eine nicht-monogame Beziehung einen ganz anderen Fokus auf Kommunikation lege. „Man denkt auch viel bewusster darüber nach: ‚Wie möchte ich diese Beziehung führen, was für Bedürfnisse habe ich gerade?‘ Das ist einfach Voraussetzung dafür, dass es funktioniert.“ Shelly fühlt sich dadurch entlastet, nicht die einzige Person zu sein, die die Bedürfnisse der Partnerperson erfüllen muss. Auch die Sicherheit zu wissen, dass die Beziehung zwischen hen und Robyn sich nicht dadurch verändert, dass sie etwas mit anderen Personen haben, stärkt Shelly. „Dann gehe ich halt auf eine Party und finde jemanden süß und knutsche da rum. Das hat einfach nichts mit uns zu tun. Danach komme ich nach Hause und knutsche mit dir rum“, sagt hen lachend. „Oder wir telefonieren und erzählen uns begeistert von unseren Dates“, wirft Robyn ein.

Reaktionen im Umfeld

In Robyns Freund:innenkreis geht they sehr offen mit der Beziehung um. „Da bin ich aber auch nicht die einzige Person, die zumindest nicht in einer klassisch monogamen Beziehung ist.“ Auch Robyns Mutter weiß von der Beziehung und fände sie teilweise amüsant. „Irgendwann hatte ich ihr gesagt, ich sei unterwegs und habe keine Zeit zum Telefonieren und im Nachhinein kam: ‚Bei wem von deinen Leuten warst du gerade?‘“ In anderen Kontexten wie der Arbeit sei es oft ein Abwägen, wem man es erzählt. „Nach unendlich vielen Outings bin ich an dem Punkt, dass ich keine Lust mehr habe auf klassische Outings. Wenn es sich ergibt und ich darüber sprechen will, dann tu ich es und wenn nicht, ist es mir auch egal“, stellt Robyn klar. 

Shelly sieht das ähnlich. „Eigentlich will ich es nicht zurückhalten, es ist ein Teil von mir.“ Hen rede gerne über Robyn und möchte es nicht verheimlichen, wenn hen Dates hat. Von Shellys Freund:innen wüssten es auch alle. In einem älteren Freund:innenkreis, den Shelly mit hens Exfreund geteilt hat, haben sie aber viele dafür verurteilt. „Ich war die böse Person, die viel Hass abbekommen hat, obwohl alles mit ihm abgesprochen war.“ Auf Social Media gehen beide sehr offen mit ihrer Beziehung um und auch Shellys Familie weiß davon und akzeptiert es. „Ich will meine Familie damit auch nicht überfordern und mit fünf Partnerpersonen zuhause anzukommen, aber ich möchte ihnen transparent machen, wer ich bin.“

Zum Schluss erzählen sie, dass sie sich mehr Repräsentation von Poly-Beziehungen in den Medien wünschen. Besonders sogenannte Love Triangles wie in Twilight oder Tribute von Panem nerven sie. Wir beenden das Gespräch mit einem kurzen Austausch über Serien, die das Thema Poly aufgreifen.


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