Afrozensus: Die Erfahrungen Schwarzer Menschen in Deutschland

Artikel: Selome Abdulaziz | Die erhobene Faust ist ein Symbol der Black-Power-Bewegung, die von afroamerikanischen Bürgerrechtler:innen gegründet wurde. [Symbolbild: pixabay]

Der Afrozensus ist ein wissenschaftlicher Bericht, der die Lebensrealität von Schwarzen bzw. afrikanischen Menschen in Deutschland aufzeigen möchte. Erstmals werden die Erfahrungen dieser Bevölkerungsgruppe in dieser Größenordnung sichtbar. 

CN: Anti-Schwarzer Rassismus

Das Projekt wurde von Each One Teach One (EOTO) e.V. und Citizens for Europe (CFE) entwickelt und vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung sowie der Alice Salomon Hochschule wissenschaftlich begleitet. EOTO ist ein 2012 gegründetes Schwarzes Bildungs- und Empowerment-Projekt in Berlin. CFE ist eine zivilgesellschaft­liche Organisation in Berlin.

In dem Vorwort schreiben Maisha M. Auma, Professorin im Bereich Diversity Studies und Saraya Gomis, eine Studienrätin, die gegen Rassismus im Bildungssystem kämpft: „Mit dem Afrozensus ist 2021 nun erstmals ein Er­hebungsinstrument eingeführt worden, welches die Verwobenheit afrodiasporischer mit postkolonialer deutscher Geschichte und Gegenwart auf einer em­pirischen Basis sichtbar zu machen vermag.“ Er soll ein wichtiger Schritt in Richtung Gleichstellung von Menschen afrikanischer Herkunft sein und die Bekämpfung von Anti-Schwarzem Rassismus (ASR) fundieren.

Das Forschungsdesign entspricht dem sogenannten Mixed-Methods Ansatz, in dem quantitative und qualitative wissenschaftliche Methoden verwendet werden. Bei quantitativer Forschung stehen große Fallzahlen im Vordergrund. Hierfür diente eine 2020 durchgeführte Online-Befragung mit 5.793 Teilnehmer:innen als Grundlage. Um die Grenzen der quantitativen Forschung aufzufangen, zum Beispiel um Diskriminierungsmechanismen besser verstehen zu können, wurden im Afrozensus Gespräche in Fokusgruppen und Expert:innen-Interviews geführt.

Diskriminierungserfahrungen

Neben Fragen zur Demografie, zum gesellschaftlichen Engagement oder Vertrauen in Institutionen wurden die Teilnehmer:innen vor allem zu ihren Diskriminierungserfahrungen befragt. Dabei wurde nach verschiedenen Bereichen getrennt, in denen die Personen Diskriminierung erfahren. Die meisten Befragten gaben solche Erfahrungen in den Bereichen Öffentlichkeit und Freizeit (93 Prozent), Medien und Internet (86 Prozent), Geschäfte und Dienstleistungen (85 Prozent) sowie im Arbeitsleben (85 Prozent) an.

Bezüglich Diskriminierung am Arbeitsplatz gaben zwei Drittel der Befragten an, einen Job aus rassistischen Gründen nicht bekommen zu haben. 57 Prozent wurden bereits auf der Arbeit rassistisch beleidigt. Eine Befragte beschreibt ein Diskriminierungserlebnis: „Ich habe nach einem Bewerbungsgespräch eine Absage erhalten. Die Begründung lautete: ‚Es geht nicht um Ihre Qualifikation, aber die weißen [hochrangigen Beamt*innen] werden sich von einer Schwarzen Frau keine Anweisung geben lassen, das möchte ich Ihnen ersparen.’“

Das führt oft dazu, dass die Personen diese Bereiche vermeiden. Fast ein Viertel der Befragten gab an, den Bereich Öffentlichkeit und Freizeit in den letzten zwei Jahren aktiv gemieden zu haben und 94 Prozent der Befragten meiden bestimmte Reiseziele aus Angst vor Rassismus. Wenn es um den Kontakt zur Polizei geht, gab fast die Hälfte der Befragten an, diesen in den letzten zwei Jahren aus Angst vor Diskriminierung umgangen zu haben. Dieses Vermeiden von Bereichen aus Angst nennt sich laut dem Afrozensus antizipierte Diskriminierung und verstärke Ungleichheit, da Menschen dadurch öffentliche Orte oder die Inanspruchnahme von Ressourcen vermeiden.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Der Afrozensus zeigt, dass ASR sehr spezifisch wirkt. Das Thema Haar spielt beispielsweise bei einem Großteil der Schwarzen Community eine Rolle. So gaben 95 Prozent der Befragten an, im Drogeriemarkt keine passenden Kosmetikartikel für ihre Hautfarbe oder ihre Haarstruktur zu finden. Auch bei Friseur:innen treten Probleme auf, da viele nicht mit Afrohaar vertraut sind. Über 90 Prozent gaben zudem an, dass ihnen ungefragt in das Haar gegriffen wird. Am Arbeitsplatz spielt das Haar oft eine Rolle. Eine teilnehmende Person beschreibt: „Bei meiner Jobsuche wurde mir öfters geraten, meine Haare zu glätten oder zuzutragen, damit ich seriöser wirke.“ Auch Sexualisierung wird als häufige Erfahrung von vielen Teilnehmer:innen geteilt: Fast 80 Prozent gaben an, auf Dating-Apps sexualisierte Kommentare bezüglich ihrer „Herkunft“ zu erhalten. Dies sind Beispiele für Othering und die Exotisierung Schwarzer Menschen.*

Trotz vieler geteilter Erfahrungen betonen die Autor:innen des Afrozensus intersektionale Diskriminierung. Intersektionalität beschreibt die Verschränkung verschiedener Ungleichheiten. Identitäten wie Geschlecht, Ethnizität, Klasse, Religion oder sexuelle Orientierung bestimmen in einer Wechselwirkung die Lebensrealität einer Person. So gibt es in der Schwarzen Community spezifische Erfahrungen. Befragte mit Fluchterfahrung berichteten signifikant häufiger davon, diskriminiert worden zu sein, besonders in den Bereichen Justiz und Polizei. Auch trans*, inter* und nicht-binäre Schwarze Personen waren häufiger von Diskriminierung oder Gewalt durch die Polizei betroffen und stellen somit eine besonders vulnerable Gruppe da.

Wie soll es weitergehen?

Am Ende des Reports stehen die Forderungen der Befragten sowie Handlungsempfehlungen, die die Autor:innen daraus für Politik und Gesellschaft ableiten, im Mittelpunkt. Als größte Probleme beschreiben die Befragten den fehlenden professionellen Umgang mit Rassismus in Institutionen und Organisationen sowie die fehlende Repräsentation Schwarzer Menschen auf allen ge­sellschaftlichen Ebenen. Jeweils über zwei Drittel der Befragten identifizieren diese beiden Themen als „gro­ßes Problem”. Über 99 Prozent fordern eine diskriminierungskritische Ausbildung in pädagogischen und sozialen Berufen, Aktionspläne zur Bekämpfung von Anti-Schwarzem Rassismus auf Bundes- und Landesebene sowie ein Ende von Racial Profiling und Polizeigewalt.

Die Autor:innen fordern von politischen Verantwortlichen flächendeckend Beratungsstellen für Betroffene von Anti-Schwarzem Rassismus. Diese sollen unter Leitung von Schwarzen Selbstorganisationen umgesetzt werden. Außerdem sollen Aktionspläne zur Bekämpfung von ASR sowie zum Empowerment Schwarzer und afrikanischer Menschen etabliert werden. Öffentliche Institutionen sollen sich rassismuskritischer aufstellen, indem sie beispielsweise ihre Mitarbeiter:innen schulen. Für die Autor:innen ist eines der zentralen Ergebnisse, dass Anti-Schwarzer Rassismus spezifisch wirke,  weshalb er spezifisch und strukturell adressiert werden müsse.

Auch an Schwarze und afrikanische Communities richten die Autor:innen Handlungsempfehlungen. Wie die Ergebnisse des Afrozensus zeigen, seien Gruppen innerhalb der Communities besonders von Diskriminierung betroffen. Dazu gehören beispielsweise trans*, inter* und nicht-binäre Personen oder Menschen mit Beeinträchtigung und Behinderung. Dieser Vulnerabilität soll mit Ressourcen sowie Solidarität und Räumen begegnet werden.*Othering: Schwarze Menschen werden als fundamental und wesenhaft andersartig und als Gegenpart zu einem „Standard” weißer europäischer Menschen und Körper ge­sehen. Diese Zuschreibung wird mit Abweichung und Minderwertigkeit verbunden. Sie funktioniert aufgrund der breiten Bekannt­heit der damit einhergehenden Stereotype meist ohne explizite Begründung. Oft werden unterbewusst genetische oder angeblich kulturelle, aber bis zur quasi-natürlichen Unverrückbarkeit verallgemei­nerte Eigenschaften als Ursachen für diese Zuschrei­bungen angeführt. (Definition nach dem Afrozensus-Report)


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